Aleksandra Fedorska und Tadeusz Rawa
Auf polnischen Straßen hört man die beiden in der Ukraine gesprochenen Sprachen Ukrainisch und Russisch überall – im Jahr 2017 lebten in Polen nämlich zwei Millionen Ukrainer. Im laufendem Jahr könnten es sogar mehr als drei Millionen werden. Viele Ukrainer kommen zur Arbeit nach Polen, dabei verdienen sie das Dreifache ihrer ukrainischen Gehälter. Andere verbinden ein Studium im zur Europäischen Union gehörenden Polen mit einer Arbeitsstelle.
Iryna, Bohan und Igor wollen in die weite Welt – zuerst aber nach Polen
Iryna, Bohdan und Igor habe ich an der privaten Hochschule WSPA in Lublin getroffen. Lublin ist eine ostpolnische Stadt mit knapp 350 000 Einwohnern. Iryna stammt aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew, während Igor aus dem zentralukrainischen Zaporizhia kommt. Die beiden achtzehn und neunzehn Jahre alten Studenten kamen gleich nach dem Abitur vor eineinhalb Jahren nach Polen. Bohdan ist schon zwanzig und hat während zwei Semestern in Kiew Informatik studiert und dann ein Jahr in seiner Heimat gearbeitet. Alle drei wollten in die „große weite Welt“ hinaus. So wurde Polen zu ihrer ersten und nicht unbedingt letzten Etappe.
„In der Ukraine gibt es viele Vermittlungsfirmen, die Arbeit und einen Studienplatz in Polen vermitteln. Daher war es gar nicht so schwer zu kommen“, erklärt Iryna. Im ersten Studienjahr lebte sie vom Ersparten und vom Geld, dass ihr die Eltern aus der Ukraine geschickt haben. „Ich konnte die Sprache nicht und war keine achtzehn, das hat mir die Arbeitssuche schwer gemacht“, erklärt Iryna. Jetzt im zweiten Studienjahr arbeitet sie für drei Euro in der Stunde in einem Lubliner Restaurant als Kellnerin und Kassiererin. Das reicht für die Studiengebühren von 400 Euro sowie für ihren Lebensunterhalt. Polen ist ein recht kostengünstiges Land.
Igor arbeitet in einer Kneipe und wurde gerade befördert. Bohdan lebt vom Programmieren für Auftraggeber in der Ukraine und wird zusätzlich noch von seinen Eltern unterstützt. Beide junge Männer haben Zwei–Zimmer–Wohnungen gemietet. Bohdan wohnt mit seiner Freundin zusammen, während Igor sich die Wohnung mit einem Kumpel teilt. Jeder von ihnen zahlt für die Miete rund 150 Euro. Iryna teilt sich dagegen ein Zimmer mit einer Kollegin.
Jeder Ukrainer einmal nach Polen
Das Studium fällt den jungen Leuten nicht schwer. Die Vorlesungszeiten sind flexibel und berücksichtigen die Bedürfnisse ihrer arbeitenden Studierenden. Flexibel sind auch ihre Arbeitgeber, die es wertschätzen, daß ihr Personal parallel arbeitet und studiert. So können Studium und Arbeit gut miteinander vereinbart werden.
Als die drei nach Polen kamen, sprachen sie nur Ukrainisch und Russisch. Des Polnischen waren sie nicht mächtig, was das Leben anfangs schwierig machte. Jetzt, nach eineinhalb Jahren in Polen, ist ihr Polnisch sehr gut verständlich; denn Ukrainisch unterscheidet sich nicht allzu sehr vom Polnischen, ganz anders als dies beim Deutschen oder Niederländischen der Fall ist.
Die drei fühlen sich wohl in Polen, aber, da sie alle aus Großstädten wie Kiew kommen, fehlt ihnen manchmal die Großstadtatmosphäre. Wieso haben sie sich für Polen entschieden? „Es ist seit einigen Jahren so, daß jeder Ukrainer entweder schon einmal in Polen zu Besuch war, dort gelebt hat oder plant nach Polen zu fahren“, lacht Igor. „Es ist nicht weit entfernt, kulturell ähnlich und günstig.“ „Gerade Lublin ist so nah“, ergänzt Bohdan. „Es sind gerade mal 70 Kilometer bis zur Grenze. Ich steige abends in einen Bus und bin am Morgen in Kiew – für nur 20 Euro.“
Studieren und arbeiten in Polen
Es ist ein großer Vorteil, dass das Studentenvisum für die Dauer des Studiums gleichzeitig auch das Arbeiten erlaubt. Die meisten Ukrainer in Polen besitzen eine Arbeitserlaubnis, die es ihnen ermöglicht, während neun von 12 Monaten im Jahr in Polen zu arbeiten. Viele haben inzwischen keinerlei Beschränkungen mehr und das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt, da sie langfristig in Polen bleiben wollen.
Es gibt viele Gründe für den massiven Exodus der Ukrainer nach Polen. Aber die Okkupation der Krim durch Russland und der Krieg in der Ostukraine haben zu einer schweren Wirtschaftskrise im Land geführt. Das Bruttoinlandsprodukt brach ein und der tiefe Fall der Währung Hryvnia löste eine galoppierende Inflation aus. Der Lebensstandard der Ukrainer, der vorher schon der niedrigste in Europa war, sank daraufhin nochmals um die Hälfte.
Auf polnischer Seite gingen nach dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 auf der Suche nach Arbeit und höheren Löhnen rund zwei Millionen junge Menschen in die westlichen Länder der Europäischen Union; so nach Großbritannien, Irland, Deutschland und Skandinavien. Allein nach Großbritannien emigrierten binnen kurzer Zeit eine Million Polen. Seitdem stellen sie dort die größte nationale Minderheit.
Polnische Emigrationsverluste mehr als ausgeglichen
Die polnische Volkswirtschaft verlor auf diese Weise zehn Prozent ihrer Arbeitskräfte. Gleichzeitig nahm die wirtschaftliche Entwicklung in Polen an Dynamik zu. Aktuell wächst die polnische Wirtschaft jährlich um rund fünf Prozent. Vor allem der Export wächst und damit steigen die Löhne.
In Anbetracht dieser Lage hat sich die polnische Regierung entschieden, die Formalitäten und Hürden für Arbeitnehmer aus der Ukraine, Weißrussland, Russland, Armenien und Georgien abzubauen, beziehungsweise zu beseitigen. Die Erwartungen an die Zahl der Zuwanderer wurden danach weit übertroffen: es kamen mehr Arbeitnehmer aus dem östlichen Europa als gedacht. Unter ihnen stellen die Ukrainer die absolute Mehrheit dar. Von polnischen Arbeitgebern werden sie mit offenen Armen empfangen.
Meist sind die Zuwanderer in der Landwirtschaft, im Bauwesen, im verarbeitendem Gewerbe und mit Dienstleistungen tätig und verdienen zwischen 600 und 700 Euro im Monat. So können sie ihren Familien in der Ukraine jährlich zwei bis drei Milliarden Euro überweisen. Jeder zehnte dieser Immigranten möchte dauerhaft in Polen bleiben.
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Polen sind für Ukrainer überwiegend zufriedenstellend. Sie betonen, dass sich beide Völker kulturell nahestehen, schließlich lebten beide über Jahrhunderte in einem Staat zusammen. Kulturelle und mentale Konflikte gibt es daher kaum.
Die Löhne und Gehälter steigen dynamisch an; denn auch der Zustrom von Arbeitnehmern aus dem Osten Europas kann den aktuellen Bedarf an Arbeitskräften nicht decken. Polens Arbeitsmarkt wird daher zunehmend von den Erwartungen und Wünschen der Arbeitnehmer bestimmt.
Treue ukrainische Arbeitnehmer
Als im Juni 2017 die Visapflicht in den anderen EU-Staaten aufgehoben wurde, befürchteten polnische Arbeitgeber, dass ihre ukrainischen Arbeitskräfte westwärts ziehen würden. Doch dem war nicht so. Obwohl sie das Dreifache in anderen EU–Staaten verdienen könnten, blieben die meisten ukrainischen Einwanderer in Polen. Und es werden noch mehr erwartet. Es wird damit gerechnet, daß im laufenden Jahr eine weitere Million Ukrainer nach Polen kommt.
Die Vorteile dieser massiven Wanderungsbewegung liegen sowohl auf der polnischen als auch auf der ukrainischen Seite. Gleichzeitig haben bis heute lediglich 80 ukrainische Bürger in Polen Asyl erhalten. Sie kamen aus den Kriegsgebieten in der Ostukraine.
Iryna, Bohdan und Igor wollen auf jeden Fall bis zu ihrem Bachelorabschluss in Polen bleiben. Vielleicht machen sie nach weiteren zwei Jahren Studium noch ihren Masterabschluss in Lublin. Bohdan überlegt jedoch auch, das Masterstudium in einem anderen europäischen Land zu absolvieren, während Igor nach dem Bachelorexamen erst einmal reisen möchte, um die Welt zu sehen. Dagegen kann sich Iryna vorstellen, sich für immer in Polen niederzulassen. – Eine Rückkehr in die Ukraine planen sie alle nicht.