Vielschichtig und kompliziert ist die politische Situation in Polen – und Erklärungsversuche gibt es viele. Oft ist die Situation mit unseren deutschen bzw. westeuropäischen Kategorien nur unzureichend zu beschreiben – das ist uns bei Polen.pl schon lange klar. Wir scheuen uns aber nicht, unsere Leserinnen und Leser mit komplexeren Erklärungsversuchen zu (über)fordern! Gastautor Felix Ackermann hat einen dieser Erklärungsversuche, einen Beitrag des Soziologen Edwin Bendyk, ins Deutsche übersetzt. Bendyk weist auf eine Leerstelle in der polnischen Gesellschaft hin: Oberhalb der Orientierung an Familie und Freundeskreis existiere als Kategorie nur die Nation – dazwischen gebe es nichts – es herrsche „soziologische Leere“. Was das für die Gegenwart bedeutet, das beschreibt Edwin Bendyk in einem Artikel anlässlich der Inszenierung des Theaterstücks „Im freien Fall“ am Warschauer Teatr Powszechny. Felix Ackermann hat den Artikel übersetzt und gibt uns zuvor eine Einführung zu Edwin Bendyk, erläutert den Begriff „soziologische Leere“ und stellt das Stück „Im freien Fall“ vor, das u. a. am 21. Oktober auf dem Spielplan steht, wenn überall in Polen Lokalwahlen abgehalten werden.
Die soziologische Leere
Bei der soziologischen Leere handelt es sich um eine Arbeitshypothese des polnischen Soziologen Stefan Nowak, mit der er zum Beginn der 1980er Jahre eine Besonderheit der polnischen Gesellschaft beschrieb. Diese liege nach Nowak darin, dass es einen Unterschied zwischen der objektiven Komplexität der polnischen Gesellschaft und ihrer subjektiven Wahrnehmung durch einen großen Teil der Bevölkerung gibt. Mit soziologischer Leere beschreibt Nowak eine Leerstelle zwischen der starken Bindung an Primärgruppen wie die Familie sowie eine enge Verbindung mit der polnischen Nation. Andere Gruppen und Institutionen, die zwischen Primärgruppen und Nation liegen, kommen in der subjektiven Wahrnehmung vieler Polen nicht vor, obwohl sie objektiv auch in Polen existieren. Nowaks Hypothese wurde seit den 1990er Jahren immer wieder aufgegriffen und zu einem geflügelten Wort. Allerdings hat sich dabei eine Bedeutungsverschiebung ergeben, wie Mikołaj Pawlak in einem wissenschaftlichen Aufsatz feststellt: Heute wird mit der soziologischen Leere in erster Linie die strukturelle Schwäche des Mittelstands bzw. der bürgerlichen Schicht in der polnischen Gesellschaft gemeint.
Edwin Bendyk
Der landesweit bekannte polnische Publizist beschäftigt sich in seinen Büchern vor allem mit der Zukunft der Menschheit und dem Einfluss neuer Technologien auf das Zusammenleben. Seit 2016 engagiert er sich verstärkt auch als Vertreter der Zivilgesellschaft für eine aktive Auseinandersetzung mit der politischen Krise des Landes.
Bendyk wuchs in Warschau auf, wo er das Żeromski-Lyceum abschloss und an der Universität Warschau Chemie studierte. Im Alltag schreibt er für die Zeitschrift Polityka und unterrichtet am Collegium Civitas, wo er das Zentrum für die Untersuchung der Zukunft leitet. Darin liegt auch eine direkte Verbindung zu Stefan Nowak – dieser war in den 1980er Jahren Mitglied des polnischen Komitees 2000, das aktiv geistes- und naturwissenschaftliche Wissensbestände zusammenführte, um möglichst genaue Prognosen für die Zukunft abgeben zu können.
Upadanie – Im freien Fall
Árpád Schilling inszenierte im Juni 2017 am Warschauer Teatr Powszechny das Theaterstück „Im freien Fall“. Dabei handelt es sich um eine gemeinsam mit den Schauspielern improvisierte Familiengeschichte, die sinnbildlich für die polnische Gesellschaft aus zwei Teilen besteht: einem wirtschaftlich erfolgreichen und einem am Rand des Existenzminimums. „Ich versuche die Destruktion der Werte durch eine Familienerzählung sichtbar zu machen. Weder konservative, liberale noch linke Werte sind stark genug. Heute ist es schwer, auf die Frage zu antworten: Was ist das wichtigste – Freiheit, Solidarität oder Tradition? Ich sehe es eigentlich so, dass uns nichts verbindet, und das bildet den Nährboden für Extremismus und Dummheit. Das intellektuelle Niveau sinkt, wir verfallen in die Vergangenheit, und am Ende verfallen wir in Leere und Einsamkeit“, fasst der ungarische Regisseur seine Sicht auf die Gegenwart zusammen. Árpád Schilling gehört dank seiner Inszenierungen am Burgtheater Wien, der Schaubühne Berlin und dem Mailänder Piccolo Theater zu den bedeutendsten Regisseuren der Gegenwart. Im Frühjahr 2018 kündigte er an, Ungarn als Protest gegen die radikale Kulturpolitik der Regierung von Viktor Orbán zu verlassen.
Edwin Bendyk: Die soziologische Leere – In Polen fallen subjektive und objektive Strukturen der Gesellschaft auseinander
Ein starkes Sinnbild des Nachdenkens über die polnische Gesellschaft ist der Begriff der soziologischen Leere. Er wurde 1979 von Stefan Nowak, einem Soziologen an der Universität Warschau geprägt. Nowak hielt damals einen Vortrag unter dem Titel „Das Wertesystem der polnischen Gesellschaft“ auf einer Sitzung des Komitees zur Untersuchung der Zukunft „Polska 2020“, das an der Polnischen Akademie der Wissenschaften Zukunftszenarien des Landes wissenschaftlich diskutierte. Der Wissenschaftler erkannte damals, dass die polnische Gesellschaft von einer kognitiven Dissonanz geprägt ist, da die subjektive soziale Struktur nicht mit der objektiven Struktur übereinstimmt. Polen ist zwar so ähnlich organisiert wie andere moderne Gesellschaften – als System unterschiedlicher Hierarchien und Institutionen – mit einem Staatsapparat an der Spitze. Sie sind beschaffen aus Einzelteilen und ergeben erst in der Gesamtheit grundlegender Beziehungen – den Familien – ein komplexes Ganzes. Doch diese Komplexität existiert in der gesellschaftlichen Vorstellung nicht. Der wichtigste Bezugspunkt des einzelnen Polen war 1979 er selbst, seine Familie und der engste Freundeskreis. Der nächste Bedeutungsrahmen war bereits das Volk, wobei Stefan Nowak bemerkte: „Die Polen haben keinen besonders reichen Standard anerkannter Verhaltensweisen, die regulierend wirken, mit einer Ausnahme: Polen gehen davon aus, dass man bereit sein muss, sein Leben für die nationale Unabhängigkeit einzusetzen.“ Daraus schlussfolgerte der Soziologe: „Wir sehen zwischen der Ebene der Primärbezugsgruppen und der nationalen Gemeinschaft – aus Sicht der Identität der Menschen und ihres emotionalen Engagements – eine Art soziale Leere. Wenn wir ein gigantisches Soziogramm erstellen würden, das die Gruppenbindungen und die Identifikation mit sozialen Strukturen unseres Landes verzeichnen würde, wäre darauf eine „Föderation“ von Primärgruppen, Familien und Freundeskreisen zu sehen, die in einer nationalen Gemeinschaft verbunden sind und über sehr schwache Bindungen mit anderen verfügen als diesen zwei Typen.“
Der Begriff der soziologischen Leere begann ein Eigenleben, seit er jenseits der ursprünglichen Definition verwendet wird, zumeist aus der Überzeugung, dass die Gesellschaft in Polen einen Mangel aufweist. So gibt es – um eine berühmte Aussprache von Margaret Thatcher zu paraphrasieren: „Männer, Frauen, Familien und Freunde“. Die zentrale Unterscheidung in Stefan Nowaks Analyse zwischen der subjektiven und der objektiven Gesellschaftsstruktur wurde besonders in der Publizistik verwischt, in der es um den Zustand der Polen geht. Die soziologische Leere kehrte mit voller Wucht nach 1989 zurück, unter anderem in den breit angelegten Untersuchungen der „Gesellschaftsdiagnose“ von Janusz Czapinski und in den Analysen von Barbara Fatyga, die im Rahmen der Untersuchung „Kulturelle Praktiken der Polen“ entstanden. In diesem 2014 erschienenen Werk gaben die meisten Befragten auf die Frage nach den wichtigsten Werten der Polen zumeist Familie, Gesundheit und Arbeit an. Betrachtet man diese Ergebnisse, ist es einfacher zu verstehen, die Losung des derzeitigen Regierungsprogramms für den Neubau von Wohnungen „Die Familie im Eigenheim“ zu verstehen, das in Polen zum Inbegriff eines omnipräsenten Nepotismus wurde.
Eine intensive Wahrnehmung der soziologischen Leere wird auch im Bericht „Kulturelle Praktiken der Polen“ deutlich. Darin wird deutlich, dass die erfahrene und erlebte Kultur in einen Archipelag von subkulturellen Inseln zerfällt, die immer weniger miteinander kommunizieren. Nach ihren gemeinsamen Lektüren gefragt, nennen die Polen heute zumeist zwei Klassiker des 19. Jahrhunderts: Henryk Sienkiewicz und Adam Mickiewicz. Sie lesen sie zwar gemeinschaftlich nicht, haben aber aus der Schulzeit in Erinnerung behalten, dass sie große Schriftsteller waren. Diese geteilte Praxis des Nicht-Lesens beeinflusst ein mit der soziologischen Leere korrelierendes Phänomen: Die Polen sind ein Volk, das eine gemeinsame Sprache teilt. Und verbindet sie etwas darüber hinaus?
Auf der Suche nach Antworten nach dem Zusammenhang zwischen der polnischen Spezifik und der Universalität der derzeitigen Wertekrise, lohnt es sich noch, eine zweite Konzeption hinzuzuziehen – das Interregnum, die Zeit des Übergangs ohne König. In den letzten Jahren seines Lebens hat Zygmunt Baumann den Begriff propagiert, indem er behauptete, dass das von Antonio Gramsci eingeführte Interregnum den Zustand der gegenwärtigen Welt und Gesellschaft präzise beschreibe. Das Interregnum sei genau der Zustand, in dem die alte institutionelle und normative Ordnung zerfällt, was man an der Verstärkung pathologischer Phänomene erkennt, während eine neue, aufstrebende Ordnung noch nicht zu erkennen ist. Das Interregnum ist eine Situation, in der die Gesellschaft als Gesamtzusammenhang bereits nicht mehr existiert, weil ihre Strukturen die Kraft verloren haben, das zu benennen, was gut und was schlecht ist. Ein Altersgenosse von Zygmunt Baumann, der französische Soziologe Alain Touraine und Autor des Buches „La fin des sociétés“ argumentiert, dass selbst in einer solchen Situation die kleinste Einheit allein bleibt, mit der Notwendigkeit über Gut und Böse zu entscheiden, und durch die Notwendigkeit eine Entscheidung zu fällen auch als Subjekt zu agieren.
Das ist die Situation, in der wir uns in der Gegenwart befinden. Diese Gegenwart bedeutet nicht den Fall, sondern die intensive Suche nach einer individuellen Form von Subjekthaftigkeit, die zuvor stets an eine Rolle gebunden war, die der einzelne in der Familie oder der Gesellschaft spielte. Heute beschreiben wir die Wirklichkeit in einem Moment, in dem die bisherigen Regeln des Spiels ihre Gültigkeit verlieren, die Masken fallen und die nackten, zerbrechlichen Individuen zum Vorschein kommen. Sie erscheinen als die, die sie sind. Diese Situation ist unerträglich und es gibt nur zwei Szenarien: Entweder gibt es eine gesellschaftliche Wiederherstellung und die Rollen werden neu verteilt, sodass die Gesichter der Helden hinter den Masken der neu verteilten Rollen verschwinden. Oder sie führt zur Anomie, die in den Zerfall mündet.
In dem kürzlich am Warschauer Teatr Powszechny von Árpád Schilling inszenierten Stück „Upadanie“ (Im freien Fall) erzählt der Regisseur nicht, er urteilt nicht. Stattdessen entlässt er die Zuschauer am Ende des Stücks mit einer Frage aus der Tiefe der klassischen Soziologie – den Überlegungen Emile Durkheims über den sozialen Kontext individueller Handlungen wie dem Selbstmord. Das ist der rechte Zeitpunkt, um den Kreis zu schließen und nochmals zum Ausgangspunkt, zu Stefan Nowak zurückzukehren und seiner zentralen Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Struktur der Gesellschaft. Seine Beobachtungen aus dem Jahr 1979 zeigten, dass Polen eine Gesellschaft war, ohne es zu wissen. Doch die Polen erfuhren es schon ein Jahr später, als sie die Strukturen der Gewerkschaft Solidarność schufen. Der bereits erwähnte Alain Touraine, einer der ersten Forscher, der dieses Phänomen untersuchte, nannte sie damals eine „totale soziale Bewegung“.
Und wie sieht es heute aus? Bezieht sich die soziologische Leere, die damals identifiziert wurde, nur auf die subjektive Struktur? Oder hat die neoliberale Transformation – wie heute nicht nur in Polen zu sehen ist – auch zum Zerfall der objektiven Strukturen geführt und die gesellschaftlichen Bindungen zerstört? Wir stoßen jeden Tag aufs neue auf diese Frage, wenn wir mit den Zumutungen der populistischen Regierung konfrontiert werden, die auf die Krise von Bindungen und Werten mit einer politischen Mobilisierung reagiert, deren Kern die Verringerung gesellschaftlicher Komplexität und Vielfalt ist, die alles auf die Figur des homogenen Volkes reduziert. Ihre Teilnehmer sollen gemeinsame Eigenschaften, eine gemeinsame einheitliche Geschichte und die Bindung an traditionelle Werte vereinigen.
Das ist ganz offenkundig ein falsches Konstrukt und die falsche Antwort auf die Krise. Am besten ist das auf den unteren Ebenen gesellschaftlicher Strukturen zu sehen, die zwar die Rhetorik von Werten verwendet, aber sich offenkundig auf die Anomie zubewegt. Ob wir dieser entkommen, hängt nicht von der Kraft der traditionellen Familie ab, sondern davon, ob wir noch eine Gesellschaft sind, selbst dann, wenn wir im Zustand des soziologischen Vakuums gefangen sind.
Übersetzung aus dem Polnischen: Felix Ackermann
Felix Ackermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau, wo er die Geschichte des Gefängniswesens erforscht. 2017 erschien von ihm: Mein Litauischer Führerschein – Ausflüge zum Ende der Europäischen Union.
Der Artikel von Edwin Bendyk heißt im Original „Optymizm Upadania“ und ist im Begleitheft zum Theaterstück „Upadanie“ erschienen (Herausgeber: Teatr Powszechny,Warszawa 2018, S. 9–13).