Rückwärts nimmer. Newsflash aus Polen

Sie kennen den Ausdruck „im Westen nichts Neues“, oder? Nun, das lässt sich in Bezug auf Polen ganz bestimmt nicht sagen. In Polen ist immer was los. Und das ist (meistens) gut so.

Im Osten viel Neues

Die neue polnische Regierung hat alle Hände voll zu tun. Wobei sie viel mehr Hände bräuchte, um die acht Jahre PIS zeitnahe und effektiv auf- und abzuarbeiten. Die Behörden sanieren, vielfältige Missstände beseitigen, neue Prioritäten setzen (und alte, die tatsächlich etwas taugen, auditieren und beibehalten). All das und vieles mehr erfordert Zeit, Geduld und Fingerspitzengefühl. Und genau das scheint derzeit an der Weichsel Mangelware zu sein. Eine andere Frage ist, ob mit Geduld und Fingerspitzengefühl die erforderlichen Veränderungen überhaupt möglich wären. Erst recht, wo sie doch stets von Vorwürfen des Staatsverrats und Unterwürfigkeit gegenüber Deutschland und der EU begleitet werden. Letztere stammen natürlich von der PIS und Jarosław Kaczyński höchstselbst. Diese Angriffe gehören mittlerweile zur Standardattitüde der nunmehr größten polnischen Oppositionspartei.

Die Zeit steht nicht still, das Leben geht weiter. Donald Tusk et consorts müssen also die Vergangenheit aufarbeiten, die Gegenwart managen und die Zukunft planen – und das zeitgleich. Manch eine Regierung wäre schon mit nur einer dieser Aufgaben ausgelastet.

It´s raining Geld

Um die besagten Herausforderungen zu meistern, setzt die Regierung Tusk auf den sozialen Frieden. Wenn es schon politisch rumort, sollte es wenigstens gesellschaftlich friedlich zugehen. Ein altbewährtes Mittel hierfür ist das liebe Geld. Sterbegeld zum Beispiel, das von 4.000 auf 7.000 Zloty angehoben wurde und jedem zusteht, der je in die Sozialkassen eingezahlt hat. Oder das neue Betreuungsgeld, das sog. „Babciowe“ (von babcia – Oma), das mit 1.500 Zloty in den ersten drei Lebensjahren des Kindes zusätzlich zu den 800 Zloty Kindergeld ausgezahlt wird. Sofern die Eltern arbeiten gehen. 2.300 Zloty pro Kind entsprechen (kaufkraftbereinigt) etwa dem Wert von 1.100 Euro. Im Monat wohlgemerkt. Darüber hinaus gibt es nach wie vor günstige Kredite für junge Familien, die mit ihrem ersten Eigenheim liebäugeln. Die Vorgängerregierung hat die Bauzinsen für sie auf 2% gedrückt. Für den Rest kamen der Staat, beziehungsweise die Steuerzahler auf. Und das bei (damals) ca. 10% Inflation. Die neue Regierung setzt noch einen drauf und senkt die Zinsen auf 0. In Worten: Null. Bei nunmehr 3,9% Teuerungsrate. Das ist beachtlich, wenngleich von der Nullverzinsung ausschließlich Familien mit mindestens drei Kindern profitieren. Die und die Bauträger, versteht sich. Diese haben längst die Immobilienpreise entsprechend erhöht, ganz getreu dem Motto: Wer weniger Zinsen zahlt, der kann sich einen höheren Baukredit leisten.
Auch die Lehrer und Rentner können sich auf mehr Geld freuen. Die erstgenannten sollen zudem demnächst keine Hausaufgaben mehr aufgeben. Zumindest bis zur dritten Klasse. Ab der vierten, wären sie dann nur freiwillig. Mit anderen Worten: Unter der neuen Regierung springt auch für die Schüler was gutes heraus. Nämlich mehr Freizeit. Die Lehrerverbände stehen dem eher skeptisch gegenüber.

Polnische Wirtschaft

Die Wirtschaft in Polen beschreitet schon längst ihre eigenen, von der Politik weitgehend unabhängigen Wege. Und das zum Besten des Landes. „Polityka sobie, a ekonomia sobie“ pflegt man dazu in unserem Nachbarland zu sagen, was sinngemäß so viel heißt, dass die polnische Wirtschaft, die in Deutschland einstmals für Chaos, Rückständigkeit und andere Projektionen und psychologische Mechanismen wie Abwärtsvergleiche herhalten musste, nunmehr für Krisenbeständigkeit, ungebremstes Wachstum und Attraktivität steht. Was wie ein Werbeslogan wirkt, ist in Polen längst Realität. Neuste Beispiele liefern Miele und der dänische Windradproduzent Vestas. Miele verlagert seine Waschmaschinenproduktion aus Gütersloh nach Ksawerów, in der Nähe von Łódź. Vestas hingegen wird sich in Stettin niederlassen. Zum ersten Spatenstich ist der dänische Monarch persönlich angereist und pries die Vorzüge des Standortes an.

Der Mindestlohn in Polen beträgt derweil 4.300 Zloty (daraus ergibt sich ein Netto-Lohn von 3.200 netto, die Abgaben sind im Niedriglohnbereich besonders gering). Das Durchschnittseinkommen ist laut dem Statistischen Zentralamt auf 8.033 Zloty hochgeklettert. Die Europäische Kommission schätzt das polnische Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr auf 2,7%.

Polen als Vorzeigeland

Apropos anpreisen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und den unzähligen Menschen, die seither in Polen ihre Zuflucht gefunden haben, tauchen im russisch- und ukrainischsprachigen Internet viele Videos auf, die Polen zeigen. Oft sind es Sachen, die für die Einheimischen selbstverständlich sind – wie die Sauberkeit polnischer Plattenbausiedlungen, oder die polnischen Dörfer, die asphaltierte Wege, gepflegte Rasen, Läden und sogar Tankstellen aufweisen. Ganz im Gegensatz zu den Dörfern in Russland und der Ukraine.
Die Polen lernen durch diese Beiträge ihr Land neu kennen. Gleichzeitig zeigen sie sich verwundert, dass vieles, was für sie zum Alltag gehört, für die “Gäste” aus dem Osten ein Video oder gar einen ganzen Kanal in den Sozialen Medien wert ist.
Eine der Galionsfiguren dieser sogenannten V-Logger ist der russische Geflüchtete Wiaczeslaw Zarucki (polnische Schreibweise). Er reist mit seiner Kamera durchs Land, berichtet über die Weihnachtsmärkte, die öffentlichen Verkehrsmittel und über die unterschiedlichen Mentalitäten der Russen und Polen. Eines seiner beliebtesten Videos ist ein Kommentar zu einem Beitrag einer in Polen lebenden Belarussin, die über polnische („europäische“) Männer und ihre Eigenheiten sinniert. Für die deutschen Zuschauer könnte es überaus interessant sein. Nicht zuletzt deswegen, weil die Polen für die Russischsprachigen uneingeschränkt zu den Europäern zählen.

Das Weimarer Dreieck

Mit dem neuen alten Außenminister, dem erfahrenen Tausendsassa Radosław Sikorski, ist jede Menge Bewegung und ein frischer Wind in die polnische Außenpolitik gekommen. Die erste Reise des polnischen Premiers Donald Tusk ging nach Brüssel (und dann nach Kiew, Paris und Berlin). Sikorski ist indes zuallererst in Berlin eingekehrt. Sowohl er als auch sein Regierungschef kurz darauf, haben bei ihrer Stippvisite in der Bundeshauptstadt eines klargemacht: Die Zeiten des polnischen Deutschland-Bashings sind endgültig vorbei. Polen wolle keine künstliche Feindseligkeit gegenüber seinem westlichen Nachbar. Die Bundesrepublik sei ein wichtiger, ja der wichtigste Partner Polens in Europa. Dementsprechend setze man fortan auf konstruktive Zusammenarbeit und die gemeinsame Zukunft. Zukunftsgerichtet sei auch das Postulat der Wiedergutmachung für die im Zweiten Weltkrieg begangenen deutschen Verbrechen. Denn die Frage der Kriegsreparationen sei längst entschieden. Die der Wiedergutmachung dagegen nicht. Eine Feststellung, die Tusk als Historiker, polnischer Premier, aber vor allem als ein Danziger betonen wolle – auch wenn der Bundeskanzler es anders sehe.
Aller Harmonie und Bekundungen zum Trotz kann sich die neue Regierung Polens paradoxerweise als ein schwierigerer (Gesprächs-)Partner für die Bundesrepublik entpuppen als die Vorgänger. Die PIS konnte man getrost ignorieren – niemand verhandelt schließlich mit hysterischen Populisten, die Deutschland oft unsachlich angegangen sind. Konkrete Politiker von Welt, wie Tusk und der Cambridge-Absolvent Sikorski, sind da schon ein ganz anderes Kaliber. Eines, das seitens der Ampel kaum übersehen und überhört werden kann. Polen hat unter der neuen Regierung neue Ziele und Ambitionen – es möchte endlich mitentscheiden. Es sei höchste Zeit das Weimarer Dreieck (Berlin-Paris-Warschau) wiederzubeleben. Für Polen sei es schließlich eine Eintrittskarte zum informellen Entscheidungsgremium der EU, so Sikorski.

Polen sucht seinen Einfluss nun wieder stärker in Kooperation und Abstimmung denn in Konfrontation. Ist Deutschland bereit, Polen als einen gleichwertigen Partner zu behandeln?