Letzter Platz für Polen: Für die Digitalisierung des Gesundheitswesens gab es ein schlechtes Zeugnis. 2018 veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung ihre Erkenntnisse in einem internationalen Vergleich. Deutschland erging es in diesem Vergleich allerdings nicht viel besser: Es landete auf dem vorletzten Platz.
Ganz vorn im Ranking standen Länder wie Estland, Kanada und Dänemark. In diesen Ländern war die digitale Unterstützung im Bereich der elektronischen Gesundheit (“E-Health”) schon viel weiter. Elektronische Gesundheits- und Patientenakten, elektronische Rezepten und Telemedizin waren 2018 hier schon im Alltag angekommen.
Sprint nach vorn bei E-Health
Vielleicht war diese Bertelsmann-Bewertung einer von vielen Treibern. Jedenfalls sind Polen und Deutschland ungefähr seit diesem Zeitpunkt beinahe aktionistisch in der auf “elektronischer Datenverarbeitung basierenden Gesundheit”. So nennt Wikipedia den Themenkomplex. In Deutschland rangiert das Thema unter dem eher sperrigen Begriff der Gesundheitstelematik. Vielleicht ist auch der Begriff dafür verantwortlich: E-Health in Deutschland wird in der Bevölkerung als teuer und wenig nützlich wahrgenommen.
Zumindest war das so, bis der amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn viele Hebel in Bewegung gesetzt hat. Unter anderem ergriff er Maßnahmen, um der in diesem Thema zentral agierenden gematik GmbH mehr Möglichkeiten zur direkten Umsetzung der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu eröffnen. Er schaffte gesetzliche Grundlagen. Und: Spahn sprach sich ausdrücklich dafür aus, die Digitalisierung zu nutzen, um mehr Effizienz im Gesundheitswesen zu erreichen. Auch dann, wenn keine einhundertprozentig perfekten Ergebnisse von Beginn an bereitstehen. Er setzt – viel kritisiert – auf Lernprozesse durch Ausprobieren. Er lehnt ein Fortsetzen langwieriger perfektionistischer Vorhaben ab.
Seitdem hat sich in Deutschland tatsächlich viel bewegt: Angekündigt ist, dass ab 2021 allen gesetzlich Versicherten in Deutschland eine elektronische Patientenakte von der Krankenkasse zur Verfügung stehen soll. Auch viele weitere Anwendungen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Gesundheitsforschung scheinen in greifbare Nähe gerückt zu sein, wenn man die gesetzlichen Neuregelungen, die Initiativen des Bundesgesundheitsministeriums, die neuen Spezifikationen der gematik und die Aktivitäten vieler anderer Mitspieler im Gesundheitsbereich beobachtet. Auch manche Studie bescheinigt das Vorankommen der Digitalität in der Gesundheit in Deutschland.
Der Hase und der Igel
In Deutschland unbemerkt wurde auch in Polen das Gesundheitswesen in den letzten Monaten stark digitalisiert. Überholt hier gerade Polen Deutschland? Oder hat Polen Deutschland in Sachen E-Health bereits überholt? Was macht Polen da eigentlich? Und: Was macht Polen anders?
Vorangeschickt sei: Vergleichen kann man die Gesundheitssysteme nach wie vor nicht (siehe andere Artikel bei uns). Unabhängig davon, wie digital die Systeme sind, unterscheiden sich die Probleme im Gesundheitswesen zum Teil massiv. Nach wie vor ist das polnische Gesundheitssystem nicht nur anders finanziert, sondern im Vergleich unterfinanziert. Die zentrale “Krankenkasse” (NFZ) leistet deutlich weniger als ein Versicherter in Deutschland erwarten kann. Die Arztdichte ist signifikant niedriger als in Deutschland. Die Ausgaben für die Gesundheit betragen in Polen 6,3% vom Bruttosozialprodukt, in Deutschland 11,2%. Bei höherem Bruttosozialprodukt in Deutschland. Die Menschen in Deutschland leben im Durchschnitt 5 Jahre länger. Keine Frage: Auch in Deutschland gibt es Probleme, vor allem in der Organisation und der Effizienz im Bereich der gesetzlichen Versorgung. Aber im Vergleich sind das die kleineren Herausforderungen.
Als weitere Probleme des Gesundheitswesens in Polen gelten unter anderem Dinge, die man auch positiv sehen kann. In Polen ist die Nutzung privat finanzierter Gesundheitsangebote als Ergänzung der gesetzlichen Versorgung völlig normal. Wer Geld hat, kauft sich die Versorgung. Es gibt geringere Arzneimittelpreise – aber die führen manchmal zu Arzneimittelengpässen.
Eine schöne Zusammenfassung dessen gab mir ein Bekannter als Antwort auf meine Frage, ob die neuen elektronischen Gesundheitsangebote Gesprächsthema im Freundeskreis sind:
“Ganz klar nein; wenn Medikamente fehlen und Wartezeiten zum Spezialisten in Monate gehen ist den meisten ziemlich egal, ob noch eine App existiert, die irgendetwas vereinfacht….”
Um die vielfältigen Probleme im Gesundheitswesen in Polen soll es in diesem Artikel aber nicht gehen. Sondern um die Digitalisierung. Auch, wenn sie natürlich helfen soll, die bekannten Defizite zu verringern.
Ausgangslage
Die Zentralisierung im polnischen Gesundheitssystem bietet Vorteile. Eben zum Beispiel bei der Digitalisierung. Im Gegensatz zu Gesundheitsminister Spahn, der rund 100 Krankenkassen per Gesetz indirekt zum Angebot einer elektronischen Patientenakte verpflichtet, kann sein Amtskollege Łukasz Szumowski einfach anordnen. Und das hat er offenbar getan, so dass sich die beiden Nachbarländer nun einen spannenden Wettkampf in der Digitalisierung bei der Gesundheit liefern. Es würde kaum überraschen, wenn Polen dabei im Vorteil ist. In anderen Bereichen, etwa beim bargeldlosen Bezahlen oder bei der Internetversorgung ist Polen Deutschland längst enteilt. Auch die Bereitschaft der Bevölkerung, sich auf digitale Angebote einzulassen, ist Umfragen zufolge in Polen größer (hier: Future Health Index 2019). So wünschen sich in Polen 82% der Bürger eine elektronische Patientenakte. Deutlich mehr als in Deutschland. Ein Beispiel für die Technikfreundlichkeit in Polen. Eines von vielen.
Dezentral versus zentral
Gesundheit ist operativ dezentral organisiert, das liegt in der Sache. Ein Krankenhaus, ein Arzt, eine Verwaltung: Das alles muss wohnortnah für Patienten verfügbar sein.
Bei digitalen Angeboten ist das strukturell anders: Diese lassen sich grundsätzlich zentral anbieten. Genau das hat Polen begonnen. Neben dezentralen Pilotprojekten etwa in der Telemedizin wurden leicht zentralisierbare Angebote wie das elektronische Rezept (E-Rezept), die elektronische Überweisung (E-Überweisung), ein Gesundheitsportal und eine elektronische Patientenakte auf die Spur gebracht. Auf die Spur gebracht heißt konkret: Sie sind schon da.
Gleiches hat auch der deutsche Gesundheitsminister vor, muss aber dabei nicht nur auf unterschiedliche Interessensgruppen, sondern auch auf föderale Strukturen und verschiedene Krankenkassen im Wettbewerb Rücksicht nehmen. So stehen Ärzte, Krankenhäuser, Pharmazeuten und andere im Wettbewerb um ihren Anteil im Gesundheitswesen; sie haben Einfluss. Zum Beispiel verhalten sich unterschiedliche Aufsichten bei Krankenkassen unterschiedlich; regionale Zuständigkeiten bei Krankenhäusern erlauben Krankenhaus-Lokalpatriotismus. All diese Interessensgruppen müssen überzeugt werden.
In Polen dagegen hat das Gesundheitsministerium einfach eine IT-Abteilung aufgebaut. Das Centrum Systemów Informacyjnych Ochrony Zdrowia (Zentrum für Gesundheitsinformationssysteme). Dieses konzipiert, entwickelt und betreibt dort mit rund 300 Mitarbeitern einige der neuen digitalen Systeme. In Deutschland hat allein die schon angesprochene gematik so viele Mitarbeiter. Dort entstehen aber nur die technischen Vorgaben auf Grundlage der Gesetze des Ministeriums. Dazu kommen noch die konzipierenden, umsetzenden Krankenkassen – in Deutschland rund 100. Und deren Rechenzentren, die den Betrieb sicherstellen. Ein Beispiel für die abweichenden Strukturen. Eines von vielen.
Rasantes Tempo
Das könnte ein Grund sein, warum es in Polen schneller geht. Ende Februar 2020 berichtete Wiktor Rynowiecki (Stellvertretender Direktor (CIO) am Nationalen Zentrum für Gesundheitsinformationssysteme) in Berlin darüber, dass das E-Rezept und die E-Überweisung schon weitgehend vollumfänglich in Betrieb genommen wurden. Mit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ging es 2018 los, ab 2021 ist deren elektronischer Durchlauf Standard. Das E-Rezept ist bereits der Standard, Papierrezepte sind die Ausnahme. Auch das Patientenportal ist online, die elektronische Patientenakte soll Mitte 2020 starten.
Selbst wenn noch nicht alles komplett vom Papier auf den Computer umgestellt ist und nicht alles überall nutzbar ist, so ist dieses Tempo doch beeindruckend. Ein Grund, sich den aktuellen Stand einmal genauer anzusehen. Beginnen wir in diesem Artikel zunächst mit der Grundlage, dem Gesundheitsportal. Danach sollen weitere Themen folgen: Die Prozesse für die elektronischen Geschwister der Papier-Rezepte und Papier-Überweisungen. Die Patientenakte. Das Thema Sicherheit und Datenschutz. Und was uns noch so interessiert.
Gesundheitsportal in Polen
Unter pacjent.gov.pl ist es erreichbar: Das Gesundheitsportal Polens. Es soll der zentrale Anlaufpunkt für alle NFZ-Versicherten werden, also alle gesetzlich versicherten Polen. Die NFZ ist eine Art Einheitskrankenkasse, die die Gesundheitsfürsorge in Polen koordiniert.
Ob Arztbesuche, elektronische Patientenakte, Krankschreibungen oder Überweisungen: Die Website ist – oder wird – der Einstieg. Damit ist sie einem Angebot der meisten deutschen Krankenkassen vergleichbar. Selbige bieten vielfach eine Online-Geschäftsstelle an. Und genau diese könnte in Deutschland künftig eine ähnlich zentrale Position einnehmen wie das polnische pacjent.gov.pl. Nur, dass es davon dann etwa 100 Einstiege gäbe, in Polen einen.
Okay, in Polen gibt es noch zweite Website, die in dem Zusammenhang erwähnenswert ist. Die NFZ-Website. Vielleicht spielt diese für Patienten künftig auch keine so große Rolle mehr, denn die NFZ-Seite wirkt noch sehr verwaltungsartig. Eine Mischung aus einer Verbands-Internetseite und einem Versicherten-Informationsportal.
Überraschung in Technik und Design
Schon der erste Blick auf das polnische E-Health-Portal zeigt Unterschiede: Das Angebot wirkt wie das eines Wirtschaftsunternehmens. Viele, auf den ersten Blick unübersichtliche Angebote. Eine bunte Mischung von Gesundheitsthemen und digitalen Angeboten. Zahlreiche Bilder und Farben. Modern, werblich; so ist der erste Eindruck. Ganz im Gegensatz zu vielen Angeboten in Deutschland merkt man, dass hier viel angeboten und präsentiert werden soll – und wird. Es soll tatsächlich ein zentraler Anker im Gesundheitswesen sein. Und ist damit grundsätzlich anders als die bisherige NFZ-Website.
Ein kleiner Ausflug in die Technik.
Technisch wird man überrascht: Im Hintergrund der pacjent.gov.pl werkelt ein kostenfreies Content Management System (CMS). Das verwendete Drupal ist ein etabliertes Open-Source-CMS, welches vor allem im Kontext von Community-Websites verwendet wird. Zufall ist das nicht: Drupal ist in Polen sehr beliebt. Aber: Das sieht nach einer pragmatischen Entscheidung aus, die ohne zigfache Abstimmung erfolgen konnte.
In Deutschland basieren die meisten Websites der Krankenkassen auf kommerziellen – teuren – Varianten. Etwa verwenden die Techniker-Krankenkasse, die Barmer oder die DAK das Produkt Coremedia. Man findet auch das in Deutschland verbreitete Open-Source-System Typo3 bei der AOK, welches zwar nichts kostet, aber in der Regel eher teuer in der Erstellung und Wartung ist. Viele kleinere Krankenkassen setzen allerdings auch auf kleinere Lösungen. Am Rande: Die polnische NFZ hat sich übrigens ganz patriotisch für ein polnisches Redaktionssystem namens edito.pl entschieden.
Spannung nach der Anmeldung
Spannender wird der Unterschied bei den Seiten, die nach dem Login ins Portal zu sehen sind.
Warum das spannend ist? Bei den Seiten nach dem Login ins Gesundheitsportal handelt es sich um sehr sicherheitskritische Seiten mit besonders schützenswerten Daten. Die Diskussion zwischen Datenschutzbeauftragten, Krankenkassen, gematik, Kritikern aus verschiedenen Bereichen und Politik rund um die Datensicherheit für solche kritischen Bereiche der digitalen Infrastruktur kocht in Deutschland dauerhaft. Das langjährige Ausbleiben von Fortschritten in der Digitalisierung liegt nach Meinung zahlreicher Experten an genau diesen Sicherheitsthemen.
Das führt dazu, dass die meisten Krankenkassen sich große Industriepartner ins Boot holen. Die sollen die Digitalisierung umsetzen. Vor allem mit dem Ziel, eine hochsichere Architektur und Infrastruktur zu erreichen. Und, um im Problemfall auf den großen Anbieter zurückgreifen zu können. Auch die Vorgaben der deutschen gematik orientieren sich jeweils am Maximum des sicherheitstechnisch Machbaren. Selbst, wenn es sehr seltene oder sehr teure Technologien sind.
Das scheint in Polen pragmatischer betrachtet zu werden. Dazu später mehr.
Funktionen und Technik der pacjent.gov.pl
Es geht los. Wir schauen einmal genauer hinein, ins polnische Gesundheitsportal. Wir finden: jede Menge aktuelle Informationen zu Viren, zu Gründen für Wartezeiten bei Ärzten und dergleichen. Allgemeine Informationen zum Gesundheitssystem – in verständlicher Form. Soweit keine Überraschung. Höchstens die sehr kundenfreundliche Präsentation.
Und Hoppla, wir schweifen noch einmal kurz in die Technik ab.
Die Tatsache, dass ein amerikanisches Servernetzwerk aufgerufen wird, fällt auf. Ein sogenanntes Content Delivery Network (CDN). So ein CDN bei Internetseiten ist üblich. Es ermöglicht eine schnelle Auslieferung der Websites. So weit, so gut. Man kann so ein CDN auch datenschutzkonform und DSGVO-gerecht verwenden. Voraussetzung ist ein Datenverarbeitungs-Vertrag. Einen Hinweis darauf habe ich in den Datenschutzbestimmungen des Portals (Stand 10.3.2020) allerdings nicht gefunden.
Das ist überraschend. Denn die Sensibilität bei Gesundheits-Websites ist sehr hoch. In Deutschland haben insbesondere Anbieter von Gesundheits-Apps bei der Verwendung ähnlich gelagerter Standarddienste zumindest schiefe Blicke erhalten. Manchmal haben sie sich sogar eine Datenschutzdiskussion eingefangen. Immerhin werden hier auch so genannte personenbezogene Daten (z.B. die IP-Adresse) in Verbindung mit Internetadressen des Portals in die USA übermittelt. Es könnten also Zuordnungen zu Krankheitsrecherchen entstehen. Überasschend ist es vor allem, weil es gar nicht unbedingt nötig zu sein scheint. Es wird lediglich eine externe Komponente, ein Javascript zum sukzessiven Laden, über das CDN geladen.
Nur eine Kleinigkeit, zugegeben. Vielleicht ein Versehen. Vor dem Hintergrund der Datenschutzdiskussionen zum Thema E-Health ist diese Kleinigkeit irritierend. Vielleicht steckt auch eine technische Absicherung der personenbezogenen Daten dahinter, das kann ich nicht direkt überprüfen. Ein Hinweis auf so eine Absicherung wäre aber beruhigend.
Nun aber zu den Funktionen
Nachdem ich nun über dieses Thema stolperte, geht es wieder zurück zu den Funktionen. Und die sind spannend. Die Anmeldung funktioniert zum Beispiel über ein PZ-Zaufany-Profil (Zaufany=Vertrauenswürdig). Das gleiche Profil kann auch für die Rentenversicherung verwendet werden. Die Identifikation dazu erfolgt zum Beispiel bei einer Bank, ähnlich dem Post-Ident-Verfahren. Alternative Anmeldewege sind die PESEL (e-dowód) und es soll später noch die Anmeldung per ZIP-Code möglich sein.
Für die Transaktionen wird die PESEL-Nummer verwendet. Die besitzt in Polen schon seit rund 30 Jahren jeder Bürger als eindeutiges Identifikationskriterium. Vergleichbar ist sie damit der deutschen Personalausweis-Identifikation. Wobei es in Deutschland daneben noch weitere Nummern in diesem Kontext gibt: Die Rentenversicherungsnummer, Steuernummer und Krankenversichertennummer. Begründet wird die Trennung in Deutschland unter anderem mit – Überraschung: Datenschutz. Denn so lassen sich Personen-Zusammenhänge nicht so leicht über eine zentrale Nummer herstellen.
Angst vor der PESEL?
Zurzeit kursieren in Polen viele Berichte über den Missbrauch der PESEL-Nummer. Zum Beispiel würden von Fremden Kleinkredite auf den eigenen Namen darüber aufgenommen. Das klappt wohl, weil oft nur die Gültigkeit der Nummer, aber nicht die Identität des Nutzers geprüft werden. So etwas führt zu Verunsicherung in der Bevölkerung und ist vielleicht ein Grund, warum mancher zögert, in der Apotheke oder beim Arzt die PESEL-Nummer mit dem Verordnungscode für das E-Rezept (“Kod recepty”) einzugeben. Ich versuche noch, herauszubekommen, ob das Auswirkungen auf die Akzeptanz der neuen Services hat. Aber immerhin wurden schon bis Sommer 2019 rund zweieinhalb Millionen E-Rezepte ausgestellt.
Einfach und nützlich
Im Portal lassen sich bisherige Arzneimittel-Verordnungen (Recepty) einsehen, was ich überprüfen konnte: Das funktioniert offenbar zuverlässig. Auch die Termine bei Leistungserbringern (Wizyty) sind einsehbar. Außerdem die Kostenerstattungen durch die NFZ . Und natürlich die Überweisungen (Skierowania). Mit einem Einmalpasswort lassen sich auch andere Personen oder Behandler berechtigen, auf die eigenen Daten zu schauen. Das sieht alles richtig gut aus; einfach bedienbar und nützlich.
Im Vergleich: Unentschieden
Im Vergleich mit den Online-Geschäftsstellen der Krankenkassen in Deutschland: Ich urteile erst einmal mit einem Unentschieden. Die Funktionen, die sich im Patientenportal in Polen einsehen lassen, bieten die deutschen Krankenkassen weitgehend ebenso. Soweit es Ihnen das Gesetz erlaubt.
Nehmen wir etwa die Online-Geschäftsstelle der AOK, meine.aok.de. Dort findet man die so genannte Patientenquittung online. Das ist ein Bericht über Verordnungen und Arztbesuche. Den hat der Gesetzgeber mal per Gesetz verpflichtend vorgesehen und viele Krankenkassen bieten ihn als Online-Service an. Er entspricht dem Überblick im polnischen Portal nicht eins zu eins, enthält aber vergleichbare Informationen. Rezepte finden sich hier, Arzt- und Krankenhausbesuche auch. Überweisungen nicht. Services wie Anträge und Änderungen an Zusatzversicherungen sind möglich. Versicherungszeiten, Lohn- und Gehaltsdaten und das Beitragskonto können eingesehen werden. Infos rund um die Gesundheit und Tools dafür werden auch angeboten. Zum Teil, bei einigen Krankenkassen, gibt es sogar deutlich mehr Gesundheits-Tools im Vergleich zum polnischen NFZ-Angebot.
Verteilte Information versus zentrale Information
Aber hier wird auch die Ausdifferenzierung des deutschen Gesundheitssystems erkennbar: Selbst bei der AOK sieht die Online-Geschäftsstelle je nach ausgewählter AOK ein bisschen anders aus. Andere Krankenkassen bieten sie gar nicht an. Die Daten von einer Krankenkasse zur anderen mitzunehmen, ist so eine Sache. Zum Teil ist das einfach nicht möglich.
A propos “ein Portal”: Zwar arbeitet auch das Gesundheitsministerium in Deutschland an einem nationalen Gesundheitsportal, aber das hat einen ganz anderen Ansatz. Seit 2018 hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ein Konzept dafür erarbeitet. Das konnte kommentiert werden und das Portal sollte 2021 online gehen. Danach gab es inhaltlichen Dissens. Vor kurzem wurde der Termin für den Online-Gang auf den Sommer 2020 vorgezogen. Inhaltlich verbirgt sich dahinter ein Krankheits- und Gesundheitsinformationsportal mit qualitätsgesicherten – aber allgemeinen – Informationen zu Krankheit und Gesundheit. Die Idee eines “Google für Gesundheit”. Aber wieder ein weiterer Anlaufpunkt. So verteilen sich die offizielle Informationsquellen für Gesundheitsinteressierte in Deutschland auf noch mehr Stellen. In Polen ist es eine.
Für die Versicherten, so sieht es für mich aus, ist die Lösung aus Polen einfacher und übersichtlicher. Vor allem, weil sie einheitlich ist. Andererseits gibt es auch keine Möglichkeit für Versicherte, diese zu umgehen. Alternativen sind privat, nicht staatlich.
Das Fazit des “Unentschieden” im Vergleich der deutschen und polnischen Version des E-Health ist erst einmal vorläufig. Ausgehend vom ersten Eindruck das Patientenportals bleibe ich zwar bei einem 1:1 in diesem Match der Gesundheitsportale. Aber das dürfte sich beim Einstieg in die weiteren Themen noch ändern.
Gut angelegtes Geld
Das polnische Gesundheitsportal selbst macht technisch und funktional zunächst einen guten Eindruck. Viele Krankenkassen in Deutschland haben aber ähnlich gute Angebote – aber nicht alle. Manche Funktionen sind in Deutschland (noch) nicht nutzbar. Dafür gibt es zum Teil im Wettbewerb der Krankenkassen sehr gute Lösungen rund um die Gesundheitsinformation oder Online-Gesundheitsprogramme. Hier ist aber umstritten, ob Versicherte den Krankenkassen bei Gesundheitsberatungen überhaupt vertrauen. Der Tagesspiegel Background Gesundheit berichtet (12.3.2020, kostenpflichtig) über eine Studie, wonach Patienten die Kassen als befangen wahrnehmen. Das dürfte bei der polnischen NFZ ähnlich sein.
Vermutlich jedoch war das polnische System insgesamt deutlich günstiger. Die genauen Kosten lassen sich für mich nur beschätzen: 2,2 Milliarden umfasste das dazu verwendete operationelle Förderprogramm “Digitales Polen” der EU. Ein Teil davon floss in das Patientenportal; im Plan sind einmal 1 Million und einmal 1,5 Millionen Euro für Ausgaben im Bereich E-Government und E-Health zu finden. Es gab daher sicher auch weitere Mittel. Eine weitere Recherche zu den Kosten erfolgt voraussichtlich noch. Diese sollten dann auch postenbezogen vergleichbar sein.
Wie geht es weiter?
Finanziert wurden die neuen polnischen digitalen Gesundheitsservices unter anderem eben aus dem operationellen Programm “Digitales Polen” der EU. Dessen formaler Abschluss der Phase 2 ist im Februar 2020 erfolgt. Dennoch stehen natürlich noch weitere Umsetzungsschritte an. So sollen ab Januar 2021 in Polen Überweisungen verpflichtend elektronisch ablaufen. Die Patientenakte wird ab Sommer 2020 elektronisch. Und auch in der Telemedizin sollen aus erfolgreichen Pilotprojekten gesamtheitliche Lösungen werden. Telemedizin-Kioske, Online-Sprechstunden und andere neue Services sollen damit in die Fläche gelangen.
Der Wettlauf ist also in vollem Gange. Grund genug, weiter auf die neuen digitalen Services in beiden Ländern zu schauen. Ein paar Dinge fand ich bereits sehr hinschauenswert und hoffe auch auf Anregungen und Rückmeldungen zu diesem Beitrag. Spannend ist neben den weiteren Funktionen, der Technik, der Sicherheit und den Kosten natürlich auch die Akzeptanz in der Bevölkerung.
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Quellen:
- Bertelsmann-Studie 11/2018: Smart Health Systems, Fundstelle https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/der-digitale-patient/projektthemen/smarthealthsystems
- Bundesgesundheitsministerium zum Terminservice- und Versorgungsgesetzt und der elektronischen Patientenakte, 10/2019: Fundstelle https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/e/elektronische-patientenakte.html
- Nachrichten der gematik zu aktuellen Themen: Fundstelle https://www.gematik.de/aktuelles/
- Ärzteblatt zum Health IT Talk 2/2020: Fundstelle https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/109698/E-Rezept-entwickelt-sich-in-Polen-zum-Erfolg?rt=0f4941ab5aa31e99f36adb6912ade728
- Ärzteblatt zur Telekom-Studie zur Digitalisierung im Gesundheitswesen: Fundstelle https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/110949/Digitalisierung-Gesundheitswesen-auf-dem-Weg-der-Besserung?rt=0f4941ab5aa31e99f36adb6912ade728
- Wikipedia zur Begrifflichkeit e-Health: Fundstelle https://de.wikipedia.org/wiki/E-Health
- Studie der Firma Philips (Future Health Index) zur Digitalisierung im Gesundheitswesen: Fundstelle https://www.philips.com/a-w/about/news/future-health-index/reports/2019/transforming-healthcare-experiences.html
- Deutschlandfunk-Beitrag u.a. zur Rolle der privaten Gesundheitsausgaben: Fundstelle https://www.deutschlandfunk.de/gesundheitssystem-der-polnische-patient.922.de.html?dram:article_id=446697
- MDR zu Problemen in der Arzneimittelversorgung in Polen: Fundstelle https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/medikamentenmangel-polen-100.html
- Ärzteblatt zu den Problemen im Gesundheitssystem in Deutschland: Fundstelle https://www.aerztezeitung.de/Politik/Deutsches-Gesundheitssystem-erhaelt-maessiges-Zeugnis-407320.html
- Germany Trade & Invest, Artikel u.a. zur Arztdichte in Polen: Fundstelle https://www.gtai.de/gtai-de/trade/branchen/branchenbericht/polen/polens-gesundheitssektor-soll-digitaler-werden-120132
Anmerkung in eigener Sache:
Der Autor dieses Beitrags ist beruflich im Umfeld des Gesundheitswesens und der IT im Gesundheitswesen tätig, berichtet in diesem Artikel mit der Perspektive auf Polen daher als sehr interessierter und offener Beobachter. Eine Verflechtung mit beruflichen Aufgabenstellungen ist nicht gegeben.