(Kiel, KS) Ist die Demokratie in Polen und Ungarn gefährdet? Mit dieser Frage beschäftigten sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen des diesjährigen RUB-Europadialogs. Ihre Überlegungen, die aus dem beruflichen Kontext oder der privaten Lebenswelt heraus entstanden, diskutierten sie im August 2016 mit Bochumer Bürgerinnen und Bürgern.
Der Politikwissenschaftler Péter Vágó versuchte, mit einer historischen Herleitung die aktuelle politische Situation Ungarns zu erklären. Ausgehend vom Zusammenbruch des Kommunismus skizzierte er die Gefühlslage in Ungarn vor und nach der Wende. Er kam zu dem Schluss, dass das Gefühl der Sicherheit, welches die ungarische Bevölkerung bis 1990 verspürte, seit dem Beitritt Ungarns zur EU geringer wurde und sich Unzufriedenheit breitmachte. Die Ergebnisse der Wahl 2010, bei der die Partei Fidesz mit ca. 52% gewann, stellten eine Kritik der Ungarn am politischen System dar und müssten als das Resultat des Wunsches nach tiefgehenden Veränderungen gedeutet werden.
Die Politikwissenschaftlerin Katarzyna Kubiak analysierte drei wesentliche Aspekte des gegenwärtigen politischen Diskurses in Polen. Im Zentrum ihrer Ausführungen standen dabei die Politisierung der Medien, das umstrittene Anti-Terror-Gesetz und das Debakel um das Verfassungsgericht. So sprach sie in Bezug auf die öffentlichen Medien den stillen Protest der polnischen Bevölkerung an, der sich in sinkenden Zuschauerzahlen äußerte. Des Weiteren wies sie auf die neue Form von Einschränkungen bei den Bürgerrechten und unkontrollierten Befugnissen der Inlandsgeheimdienste in Polen hin, die aufgrund des neuen Anti-Terror-Gesetzes möglich werden. Auch die fehlende Bekanntmachung von erlassenen Urteilen des Verfassungsgerichtes merkte sie kritisch an. Das Debakel um das Verfassungsgericht hat jedoch eine neue, seit dem Ende des Kalten Krieges bisher unbekannte Welle an bürgerlichem Engagement ins Leben gerufen.
Die Kulturwissenschaftlerin Katharina Schuchardt schilderte die Wahrnehmung der politischen Lage Polens in den deutschen Medien. Diese schlagen in ihrer politischen Berichterstattung über die aktuellen Ereignisse in Polen einen scharfen Ton an: In den Titeln war von „Erzkonservativen“ oder „Orbáns Weg“ die Rede. Dem deutschen Mediendiskurs fehlte es jedoch an Hintergrundwissen, um die Wahl in Polen vom Oktober 2015 als Indikator für soziokulturelle Probleme in der polnischen Gesellschaft – wie eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und niedrige Löhne – deuten zu können. Die Wahrnehmung der politischen Führung in Polen einerseits und die pro-europäische Haltung der polnischen Bevölkerung andererseits werden durch die Medien nicht dargestellt.
Auf der Basis der EU-Grundwerte erörterte die Kulturwissenschaftlerin Anna Flack die Begriffe Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Bezug auf Polen. Das im Juli 2016 verabschiedete Mediengesetz spielt eine wichtige Rolle, da es eine Umwandlung staatlicher Sender in nationale Kulturinstitute vorsieht und infolgedessen Polen im Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen von Platz 18 auf Platz 47 abstürzte. Allerdings lässt sich der Einfluss von Staaten auf die jeweiligen Medien ebenso in anderen Ländern, z.B. in Deutschland, anhand der personellen Besetzung des Medienrates wiederfinden. Anschließend ging Anna Flack darauf ein, inwiefern es in Polen durch das neue Mediengesetz und die Lähmung des Verfassungsgerichtes zur Verletzung der Rechtsstaatlichkeit kommt.
Die hohe Aktualität des Themas zeigte sich in zahlreichen Fragen und Kommentaren seitens des Publikums. Der erste Schwerpunkt lag auf Ungarn und der Frage nach dem Umgang mit Geschichtsbildern sowie nach der Relevanz politischer Bewegungen im Land. Hier bestand vor allem Diskussionsbedarf bei der Evaluierung pro-europäischer Bewegungen, die als Gegengewicht zur regierenden Fidesz mit Viktor Orbán an der Spitze gedeutet werden können. Daran schlossen sich Fragen zur politischen Zukunft Ungarns und zu Orbáns weiteren Bestrebungen an.
In Bezug auf Polen fragten die Bürgerinnen und Bürger nach den Konsequenzen für das Verfassungsgericht und dem Umgang mit der Pressefreiheit. Hier wurde auch die Frage nach der Rolle Brüssels gestellt: Sollte die EU einschreiten? Zu bestimmten politischen Maßnahmen wie dem Kindergeldprogramm “500+” in Polen kamen Fragen zur Funktion auf, sowie der Einwand, inwiefern das als bevölkerungspolitische Maßnahme durch die Regierung genutzt wird.
In einer weiteren Fragerunde standen die Kulturinstitutionen in Polen und Ungarn im Fokus. Die Diskussion richtete sich auf die Frage, wie diese angesichts einer staatlichen Finanzierung zukünftig ihr Repertoire gestalten müssen. In der Diskussion wurde deutlich, dass sich die Institutionen den staatlichen Vorgaben aufgrund finanzieller Abhängigkeit teilweise anpassen müssen.
Ein reges Interesse an dem Länderabend ergab sich nicht zuletzt aus der Aktualität der Thematik. Dies zeugt auch von dem Interesse an Vorgängen in jenen europäischen Mitgliedsstaaten, die ansonsten weniger im Fokus der deutschen Berichterstattung stehen.
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