Vielen Polen erscheinen ihre schlesischen Mitbürger (pol. ślązacy) etwas seltsam. Warum sind sie so anders als die Warschauer oder Krakauer und warum empören sich andere Polen über sie? In Stereotypen nennt man sie beinahe boshaft „Hanysy“ (von Hans), während Schlesier die außerhalb Schlesiens lebenden Polen als „gorole“ betiteln. Die Stimmung ist zuweilen angespannt, so wie im Jahr 2011 als ein Bericht der nationalkonservativen Partei PiS schlesische Autonomiebestrebungen bzw. das Schlesiertum als eine „getarnte deutsche Option“ betitelte, was auf viele Schlesier wie ein Eimer kaltes Wasser wirkte.
Unzufriedenheit der Schlesier
Viele Schlesier in Polen zeigten in den Volkszählungen von 2002 und 2011 mit ihrer Nationalitätsangabe „Schlesier“ deutlich, dass es ihnen nicht gefällt, wie Schlesien und die Schlesier im Lande wahrgenommen werden. Kaum jemand in Polen scheint zu verstehen, warum Schlesier so hartnäckig ihre Andersartigkeit betonen, warum sie so an ihre Sprache gebunden sind und warum ihre Geschichte von der polnischen Geschichte abweichen soll.
Wer sind die Schlesier und worum geht es beim „Ärger“ mit ihrer Sprache? Die polnischsprachige Quartalszeitschrift Fabryka Silesia hatte diesem Thema 2013 ein eigenes Heft gewidmet, aus dem nachfolgend in eigener Übersetzung zitiert wird.
Das schrumpfende Schlesien
In der polnischen öffentlichen Wahrnehmung schrumpfte Schlesien in den vergangenen Jahren immer mehr auf das Industriegebiet Oberschlesiens (Górny Śląsk), welches auch schon für einige Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg als Woiwodschaft Katowice (Kattowitz) zu Polen gehörte. Das Gebiet wurde mittlerweile zum ausschließlichen Symbol Schlesiens, welches aber weitaus grösser ist: zu ihm gehören auch der größte Teil Niederschlesiens (Dolny Śląsk), dessen deutsche Bevölkerung nach 1945 ausgetauscht wurde, das Oppelner Land (Opolszczyzna) mit einer deutschsprachigen Minderheit sowie das Teschener Land mit dem Gebiet um Cieszyń an der Grenze zu Tschechien, das eine starke protestantische Minderheit besitzt. Auch das gesprochene Schlesisch (Schlonsakisch, etnolekt śląski) unterscheidet sich nicht nur vom Standardpolnischen, sondern auch innerhalb dieser Regionen.
Schlesische Grenzlandkultur und Geschichte
Für die mit Schlesien verbundene Krakauer Professorin und Soziologin, Maria Szmeja, stellt die schlesische Kultur eine typische Grenzlandkultur dar, in der sich nicht nur Elemente benachbarter Kulturen vermischen, sondern die auch eine eigenständige Kultur darstellt. Deshalb könne man Schlesien nicht so behandeln, wie andere Regionen. Sie weist darauf hin, dass sich ein bedeutender Teil Schlesiens erst seit 1945 im polnischen Staat befindet.
Schlesien weist eine andere Geschichte auf, als der Rest des heutigen Polens. Es war am Anfang des 14. Jahrhunderts das letzte Mal Teil eines polnischen Staates. Anschließend war das Schicksal Schlesiens mit den Herrschern Böhmens bzw. Tschechiens, Österreichs, Preußens und Deutschlands verbunden. Szmeja ist daher der Ansicht, dass die dort lebenden Menschen andere kulturelle Erfahrungen gemacht haben, als jene, die damals außerhalb Schlesiens auf dem Gebiet des heutigen Polens lebten.
Die Erfahrung, „die Generationen von Schlesiern während ihres Lebens in einem Staat mit entwickelter Wirtschaft und Verwaltung (nämlich im preußischen bzw. deutschen Staat) gewonnen hatten, förderte ein stark gesellschaftsfreundliches Verhalten. Damit wurde die Sorge um das gemeinschaftliche Wohl offensichtlich und man konnte ein anderes Verhältnis zu Recht, Arbeit und zum öffentlichen Verhalten feststellen.” Allerdings, so schränkt Szmeja auch ein, hat diese Sorge bereits stark abgenommen.
Dialekt oder Regionalsprache?
Bei der Sprachenfrage Schlesiens geht es einerseits darum, ob Schlesisch bzw. Schlonsakisch als Ethnolekt ein polnischer Dialekt ist oder eine eigene Sprache darstellt. Andererseits handelt es sich auch um die Frage, ob das Schlesische gemäß dem Polnischen Minderheitsgesetz von 2005 (Gesetz über nationale und ethnische Minderheiten sowie über die Regionalsprache) vom Staat als Regionalsprache anerkannt wird. Prof. Jolanta Tambor, Linguistin an der Schlesischen Universität in Kattowitz, stellt erläuternd fest, dass der mit dem Minderheitsgesetz eingeführte Begriff der Regionalsprache nicht zur linguistischen wissenschaftlichen Ordnung gehört; er steht für einen Ethnolekt, der von einer Gruppe von Menschen für ihre speziellen (kulturpolitischen) Zielsetzungen verwendet wird.
Da im Minderheitengesetz keine klaren Kriterien für die Ausweisung einer Regionalsprache festgelegt wurden, ist die Festlegung oder die Ablehnung eines Ethnolekts als Regionalsprache wissenschaftlich anfechtbar und damit automatisch auch eine (kultur-)politische Frage. Bisher wurde einzig der kaschubische Ethnolekt offiziell als Regionalsprache anerkannt, wobei dies durch einen Gesetzgebungsakt erfolgte und nicht mit einer schriftlichen Begründung.
Schlesisch – eine zweitrangige Sprache?
Tambor betont, dass laut Befragungen der Begriff „Mundart“ (pol. gwara) als eine äußerst zweitrangige sprachliche Angelegenheit aufgefasst wird. Als Mundart werden auch der Verbrecher-, Diebes- oder auch der Schüler- oder Studentenjargon bezeichnet. Viele Menschen sind daher der Ansicht, dass sie selbst etwas „Schlechteres“ sind, wenn man ihre Sprache als Mundart oder Dialekt ansieht. „Besser“ sind die, welche sich einer „Sprache“ bedienen.
Die Sprache ist somit nicht nur ein Werkzeug zur Beschreibung der Welt, sondern auch eines ihrer Wahrnehmung und sie kreiert sie auch. Dies erklärt zum Teil die hohe Emotionalität, mit der die Sprachendebatte geführt wird.
Die Krakauer Professorin Szmeja stellt ironisch fest, dass es in Polen keine generelle Zustimmung zum Gebrauch lokaler Sprachen gibt, „außer natürlich bei Kaschuben, Goralen (Bergbewohnern) aus Podhale, Großpolen, den Einwohnern Podlasiens, Masowiens usw. Ihre Sprachen wecken keine Angst, höchstens belustigen sie mit ihrem anderen Wortschatz oder Akzent. Und man erfreut sich einer Wertschätzung für die Traditionstreue, die man als Sprechender zeigt.“
Der Polnische Sprachrat bezieht Position
Der Rat für die Polnische Sprache (Rada Języka Polskiego) beantwortete im März 2012 in einem Gutachten die Frage des Innenministers, ob „die Sprache, die traditionell von Einwohnern Oberschlesiens angewendet wird, als schlesischer Dialekt der polnischen Sprache oder auch als separate schlesische Sprache behandelt werden soll“. In seiner Antwort stellte der Rat fest, dass Schlesisch, anders als das Kaschubische, keine Regionalsprache sei. Somit wird das Schlesische z.B. in offiziellen Behördenangelegenheiten nicht anerkannt und es erhält als “Dialekt des Polnischen” auch keine staatliche finanzielle Unterstützung für seinen Erhalt. Diese Entscheidung wurde von wissenschaftlicher Seite aber in Frage gestellt und berührte vor allem das Selbstverständnis vieler Schlesier, die sich damit als untergeordneter Teil einer rein „mehrheits-polnischen“ Kultur fühlen.
Im Zusammenhang mit der (Nicht-)Anerkennung des Schlesischen als Regionalsprache dient für Olena Duć-Faifer, die als Hochschullehrerin am Institut für ostslawische Philologie der Jagiellonen-Universität in Krakau arbeitet und Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Lemken in Polen ist, der Begriff „Dialekt“ dem Hauptziel, einem Ethnolekt eine Minderwertigkeit zuzuschreiben.
Dies besitzt in ihren Augen eine politische Dimension; denn es besteht in der Linguistik ein gewisser Interpretationsspielraum. So ist sie als Philologin der Ansicht, dass man „unter Berufung auf strukturelle Klassifikationskriteren und bei entsprechender Hartnäckigkeit sowie mit Interesse an einer solchen Manipulation, auch in der Lage wäre zu beweisen, dass die polnische Sprache ein Dialekt des Tschechischen oder des Slowakischen sei.“
Nach ihrer Überzeugung gibt es kein rationales Element gegen die Anerkennung einer schlesischen Gesellschaft als ethnische Minderheit oder gegen die Anerkennung der schlesischen Sprache als Regionalsprache. Sie hält dies von Standpunkt des Schutzes der kulturellen Werte sogar für eine „Notwendigkeit und Verpflichtung, da nur so das Schwinden der kulturellen und sprachlichen Besonderheiten Schlesien aufgehalten werden kann.“
Lackmustest für die polnische Demokratie
Duć-Faifer betrachtet die Situation der Schlesier als Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Lemken in Polen aus dem Blickwinkel einer anderen nationalen Minderheit, dem der ostpolnischen Lemken. Für sie ist die Frage nach dem Status der schlesischen Sprache vor allem eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins sowie eine Frage der Beachtung der Menschen- und Bürgerrechte, wenn sie beklagt, dass es für sie „unverständlich ist, wenn sich Personen, Behörden oder soziale Institutionen das Recht herausnehmen, über jemandes Sprachidentität oder über die Über- oder Unterlegenheit einer Sprache zu entscheiden“.
Das typische Ziel des mitteleuropäischen Nationalismus sei es, eine sprachliche, ethnolinguistische Homogenität anzustreben, schreibt auch Tomasz Kamusella von der Universität St.Andrews in Schottland in seinem wissenschaftlichen Aufsatz Poland and Silesians: minority rights à la carte? Durch die Wirkungen des Krieges wurde diese in Polen größtenteils erreicht.
Auch nach dem Ende des Kommunismus und dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union wird laut Kamusella dieses Ziel weiterhin verfolgt, obwohl es in direktem Konflikt mit den demokratischen Werten und der Rechtsstaatlichkeit steht.
Er sieht die Schlesier als größte Minderheit im heutigen Polen. Schlesisch sprechende sind für ihn nach den Polnischsprachigen die zweitgrößte Sprachgemeinschaft im Lande. Die Anerkennung ihres Minderheitenstatus stellt für ihn einen politischen Lackmustest für den Stand von Polens Demokratie dar.
Konsequente politische Forderungen
Auf schlesischer Seite gibt es im Rückgriff auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, neben diesen kulturpolitischen auch gesellschaftspolitische Forderungen, die sich vor allem auf Oberschlesien beziehen. Inspiriert von der westeuropäischen Regionalisierung fordert die rund 7000 Personen starke Bewegung Autonomes Schlesien (RAS, Ruch Autonomii Śląska) die Wiederherstellung der Autonomie Oberschlesiens.
Die Forderungen gipfeln darin, dass in Polen starke autonome Woiwodschaften geschaffen werden sollen, die finanziell von der Zentralregierung unabhängig sind und in eigenen Angelegenheiten selbstständig entscheiden. Damit will RAS die schlesische Identität stärken. In der Überzeugung, dass die Mehrheit der Probleme besser auf dem Niveau der lokalen und regionalen Gemeinschaften gelöst werden kann, soll der Staat dezentralisiert werden. Folglich spricht RAS sich für eine konsequente Anwendung der Subsidiarität und Stärkung der Stellung der Regionen in der Europäischen Union aus. Dies steht aber in deutlichem Gegensatz zur politischen Mehrheitsauffassung in Polen.
In einer Entscheidung des Obersten Gericht Polens wurde im Dezember 2013 der „Gemeinschaft von Personen mit schlesischer Nationalität“ (Stowarzyszenie Osób Narodowości Śląskiej) die Möglichkeit genommen, sich unter diesem Namen im Landesgerichtsregister eintragen zu lassen (Polen.pl berichtete). Die Gemeinschaft möchte eine schlesische Nationalität begründen und die schlesische Kultur „wiederauferstehen lassen“.
In der Begründung führte das Oberste Gericht aus, dass die Forderung von Schlesiern nach Autonomie eine Schwächung der Einheit sowie der Integrität des polnischen Staates darstellt und damit der polnischen Verfassung widersprochen wird.
Polnisches Staatsverständnis in Frage gestellt
Der Weg der Schlesier zu einer expliziten Anerkennung ihrer Kultur und Sprache dürfte aufgrund der damit verbundenen Infragestellung des vorherrschenden Staatsverständnisses noch ein langer und steiniger sein. Er dürfte erst dann erfolgreich begangen werden, wenn sich die Gesellschaft Polens weiter gewandelt hat.
Die vom Autor übersetzten Zitate stammen aus der vom Regionalen Kulturzentrum in Kattowitz (Regionalny Ośrodek Kultury w Katowicach) herausgegebenen Quartalszeitschrift:
Fabryka Silesia, Kwartalnik Nr 2 (4) 2013
Kłopot z Językiem
ISSN 2084-9621