Achtzig Kilometer östlich der polnischen Grenze liegt das malerische Lemberg, die wichtigste westukrainische Stadt. Im Krieg nicht zerstört, macht sie außerhalb des Zentrums in den Vorstädten den Eindruck, als wäre die Zeit in den dreißiger Jahren stehen geblieben. Sie ist mit ihrer alten Bausubstanz bedeutend größer als das vergleichbare Krakau. An den kostbaren und bunten Renaissancefassaden am Marktplatz Rynok stehen Touristengruppen und lauschen ihren Reiseleitern. Man hört Ukrainisch, Russisch – vor allem aber Polnisch. Die Polen stellen in Lemberg eine sehr bedeutende und ständig wachsende Besuchergruppe dar, die immer häufiger hierher in die Vergangenheit reisen – auch in ihre eigene.
Lemberg als polnisches Zentrum
Viele Polen haben aufgrund der Geschichte zu ihren östlichen Nachbarn ein besonderes Verhältnis. So ist das auch in Lemberg, das auf Polnisch Lwów und auf Ukrainisch Lviv heißt, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Hauptort Ostgaliziens war und wo sich damals eine knappe Bevölkerungsmehrheit als Polen bezeichnete. Es gab in der 1256 gegründeten Stadt aber auch einen bedeutenden Anteil an Ukrainern, Juden, Deutschen und Armeniern, die ihre baulichen Spuren sichtbar hinterlassen haben. Nach ihrer Gründung entwickelte sich die Stadt neben Krakau, Vilnius (poln. Wilno) und Warschau zu einem bedeutenden Handelsort und stellte ein Zentrum des polnischen Kultur- und Geisteslebens dar. Allerdings blieb das Lemberger Umland immer ukrainischsprachig.
Aussiedlung der Polen aus den Ostgebieten
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten im Rahmen der „Westverschiebung“ Polens geschätzte zwei Drittel der in den sogenannten kresy wschodnie (poln.: das östliche Grenzland) lebenden drei Millionen Polen ihre Heimat verlassen; ähnlich den aus Schlesien, Pommern und Ostpreussen vertriebenen Deutschen. Die Gebiete östlich der auf den Konferenzen von Teheran (1943) und Jalta (1945) als verbindlich festgelegten Curzon-Linie fielen an die Ukrainische, Weissrussische und Litauische Sowjetrepublik.
Lemberger Exodus nach Breslau
Auch in Lemberg fand diese Umsiedlung statt. Als im Jahr 1944 die Stadt wieder unter sowjetische Herrschaft kam, wurden dort die meisten der ansässigen Polen vertrieben. Ein Teil der Bevölkerung wurde nach der Vertreibung der dort lebenden Deutschen in Niederschlesien, vor allem in Breslau, angesiedelt. Viele Ukrainer, die zuvor im polnischen Westgalizien und in Zentralpolen gelebt hatten, wurden gleichzeitig im Rahmen der sogenannten Aktion Weichsel aus Polen zwangsumgesiedelt und von der UdSSR in oder bei Lemberg angesiedelt. Dadurch veränderte sich die ethnische und kulturelle Zusammensetzung der Stadt grundlegend. An die Stelle der traditionellen polnischen, jüdischen, deutschen und armenischen Bevölkerung traten Ukrainer.
Polnische Spuren im heutigen Lemberg
Auf einem Spaziergang durch Lemberg kann man heute, verglichen mit ehemals deutschen Städten in Polen, noch relativ leicht polnische Spuren entdecken. Eine solche Spur ist nicht zuletzt die Lateinische Kathedrale Mariae Himmelfahrt, die den mehreren Tausend hier noch lebenden Polen als Begegnungszentrum und als religiöser Mittelpunkt dient. Aber auch die Vorkriegsarchitektur, in Hauswänden eingelassene Straßennamen und Werbeaufschriften zeugen von der vor dem Krieg dominierenden Kultur. Ein Besuch auf dem fliegenden antiquarischen Büchermarkt am Arsenal macht deutlich, dass hier vor dem Krieg mehr als eine Kultur vertreten war. Neben ukrainisch verfassten Büchern findet man auch polnische und deutsche alte Literatur.
Die Curzon-Linie und der Versuch, das Rad der Geschichte zurück zu drehen
Die nach dem britischen Außenminister Curzon benannte Linie, die für Polen nach 1945 die neue Ostgrenze wurde, war ursprünglich nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920 als Waffenstillstandslinie vereinbart worden. Mit ihr waren aber weder Polen noch die Sowjetunion, die ihren Einfluss Richtung Westen ausdehnen wollte, zufrieden. Der polnische Präsident Piłsudski hatte sich das politische Ziel gesetzt, mit dem sogenannten Föderationskonzept (międzymorze, poln. Zwischenmeer, d.h. vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee) große Teile der mächtigen vom 16. Jahrhundert bis zu den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert bestehenden ständischen Polnisch-Litauischen Union (Rzeczpospolita obojga narodów) unter Einschluss Weißrusslands wieder zu errichten. Zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618) umfasste diese Union das heutige Staatsgebiet von Polen, Litauen, Lettland, Weißrussland und Teile von Russland, Estland, Moldawien, Rumänien und der Ukraine.
Unter Piłsudski wurde daher die Ostgrenze Polens im Krieg mit der Sowjetunion ab 1919 bis 1920/1923 weit über die Curzon-Linie hinaus nach Osten verschoben. In diesen Jahren wurden Wolhynien, das Gebiet von Vilnius (poln. Wilno) sowie Ostgalizien mit Lemberg militärisch eingenommen.
Auch in der Region Lemberg waren die Ukrainer von der Idee einer Neuauflage der alten Republik nicht begeistert. Sie hatten doch in der Vergangenheit vor allem als einfache Kleinbauern und als Landarbeiter unter den polnischen adligen Großgrundbesitzern gelitten. Gleiches galt auch für die Weißrussen und die Litauer. Als kürzlich, in gutem Glauben, zur Milderung des Streits um die polnische Minderheit in Litauen beizutragen, von polnischer politischer Seite Bezug auf die für Polen in der Literatur unter anderem von Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz so hochgehaltene Tradition der Polnisch-Litauischen Union genommen wurde, wurde dies von empfindsamen Litauern als Anzeichen eines polnischen Postkolonialismus aufgefasst.
Phantomschmerzen
In der polnischen Wochenzeitschrift Polityka wurde kürzlich als Thema der Woche ein Artikel unter dem Titel „Phantomschmerzen“ veröffentlicht. Er befasst sich mit der Einstellung von Polen gegenüber Litauern, Weißrussen und Ukrainern. Der Autor Jędrzej Winiecki lässt den französischen Historiker Prof. Daniel Beauvois zu Wort kommen, der die Ansicht vertritt, dass nach 1989 die polnische Vorstellung von den Kresy geradezu die Form einer Rückforderung annahm und dass eine immense Anzahl von Büchern und populärer Publikationen die Sicht der Polen deformiert hat. „Es festigte sich das seit Henryk Sienkiewicz gespürte Gefühl der Überlegenheit über Litauer, Weißrussen und Ukrainer sowie die von Adam Mickiewicz dargestellte Idylle. Diese veralteten Haltungen und angeblich so himmlischen Verhältnisse werden aber von der Zeit überholt.“
Ausstehende Verarbeitung der östlichen Präsenz von Polen
Tatsächlich haben es die Polen in der heutigen III. Republik noch nicht vermocht, ihre Präsenz im Osten Europas zu verarbeiten. Aus verständlichen Gründen konnte eine solche Debatte in der Volksrepublik Polen nicht stattfinden. Winiecki führt aus, dass ein weiteres, wahrscheinlich größeres Hindernis vor einem eventuellen Aufarbeiten vor allem in der Tragödie der polnischen Gesellschaft der Kresy besteht. Diese erlebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts drei außergewöhnlich brutale Kriege, die bolschewistische Revolution, mehrmalige Grenzänderungen, den Eisernen Vorhang, Umsiedlungen, Lager, Massenexekutionen, den Verlust des Eigentums und der Kultur und schließlich das Ende der über viele Generationen geschaffenen Harmonie. Und die Polityka stellt fest, „dass die Ungezwungenheit, mit der das paternalistische Denken über die Kresy immer noch den nationalistischen Größenwahn nährt, darauf hinweist, dass diese nicht durchgeführte Debatte dringend notwendig ist.”
Der Friedhofsstreit von Lemberg
Diese Einstellungen werden auch im sogenannten Lemberger Friedhofsstreit deutlich. Schon während des Ersten Weltkriegs sahen in Ostgalizien lebende Polen und Ukrainer ihr Gebiet als Teil ihrer zukünftigen jeweiligen neuen Staatlichkeit. So kam es 1918 zur Überraschung Polens zur Ausrufung der Westukrainischen Republik, die auch in Lemberg von Polen militärisch bekämpft wurde. Die Gräber in der Abteilung der sogenannten Jungen Lemberger Adler (Orlęta lwowskie) des Lemberger Lytschakiw-Friedhofs (poln.: Łyczaków) und die danebengelegene Abteilung der Ukrainischen Kämpfer zeugen heute noch davon.
Als Junge Adler oder Verteidiger Lembergs werden in Polen euphemistisch die jugendlichen polnischen Kämpfer gegen die Ukrainer bezeichnet. Der ihnen gewidmete Friedhofteil, ebenso wie der Janiw-Friedhof mit ukrainischen Kämpfern, verfiel während der Sowjetzeit. Auf dem Lytschakiw-Friedhof wurden die Gräber 1971 sogar mit Panzern eingeebnet und die Anlage als Mülldeponie verwendet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, langen staatlichen Verhandlungen zwischen Polen und der Ukraine und mit polnischem Geld wurde die Anlage restauriert.
Allerdings ging diesen Arbeiten ein grundsätzlicher Streit voraus. Gemäß der Expertin für ukrainische Geschichte, Bogumiła Berdychowska, fürchteten viele Ukrainer die symbolische Wirkung dieses Friedhofs, weil der Friedhof wie ein „Pantheon des Ruhms der polnischen Waffen“ sein könne, das für die Ukrainer eine beschämende Erinnerung an ihre nationale Niederlage darstelle.
Und in der Tat: Ein Besuch dieser eindrucksvollen Friedhofsabteilung mit ihrem bewachten Ehrenschrein und der Platte über einem Grab, aus dem die sterblichen Überreste eines Soldaten für das Grab des Unbekannten Soldaten in Warschau entnommen worden sind, gehört zum Pflichtprogramm jedes Lemberg besuchenden national orientierten Polen.