Der Drang nach Freiheit

Auf dem Gipfel befindet sich das Anker-Monument (pol. Kotwica). Die verbundenen Buchstaben P und W waren die Abkürzung von “Polska walczaca” (das Kämpfende Polen) und das Symbol des polnischen Untergrundstaats.

Ein Gastbeitrag von Natalia Janiszewska

Wer bald Warschau besucht wird sich vermutlich fragen, warum auf einigen Balkonen polnische Fahnen hängen. Der Grund lässt sich leicht erklären. Es geht um den Warschauer Aufstand aus dem Jahr 1944, der vom 1. August bis zum 2. Oktober dauerte. Einige Warschauer lassen die Flaggen alle 63 Tage lang draußen. So gedenken sie der Bewohner und Bewohnerinnen, die 1944 für die Freiheit kämpften.

Rund um den 1. August herum finden die größten Feierlichkeiten statt. Um punkt 17:00 Uhr bleibt wortwörtlich die ganze Stadt stehen. Eine Minute lang klingeln Sirenen, hupen Autos, stehen Fußgänger auf den Straßen. Es gibt Zeit zum Nachdenken und zum Erinnern mit den immer noch lebenden Zeitzeugen des Aufstands, Konzerte mit populären Musikern, Sport und das gemeinsame Singen auf dem Pilsudski-Platz. Die mehrgleisige Gedenkfeier begleitet oft auch die Diskussion darüber, inwieweit es begründet war, den Aufstand gegen einen vielfach stärkeren Gegner auszurufen. Dies in einem kurzen Artikel zusammenzufassen wäre unmöglich; ich versuche jedoch Fakten und Argumente zu schildern, um den Lesern und Leserinnen die ab und zu in Polen stattfindende Debatte näher zu bringen.

Die Position der seit September 1939 unter deutscher und russischer Besatzung lebenden Polen war fatal. Das von beiden Seiten schnell besiegte Land hatte wenig Chancen, sich erfolgreich gegen den durch die Besatzer eingeführten Terror zu wehren. Ziemlich rasch etablierte sich im besetzten Polen der Widerstand. Der größte wurde von der Regierung im Exil organisiert und hieß Heimatarmee. Die Struktur zählte 1944 ungefähr 350.000 Mitglieder. Das Auftreten gegen die vom Besatzer gesetzten Regeln, wie z. B. das Verstecken von jüdischen Bürgern und Bürgerinnen oder Hilfestellung für die Heimatarmee, wurden mit dem Tod bestraft. Nicht selten ermordeten die deutschen Soldaten nicht nur die direkt Engagierten, sondern auch die Nachbarn, Dorfbewohner oder Menschen, die sich zufällig in der Nähe befanden. In den Städten wurde die Jagd auf Menschen zur traurigen Alltagsrealität. Die Gefangenen landeten dann u. a. im KZ Auschwitz.

Nach fünf Jahren grausamer Okkupation schien es, dass sich die internationale Situation schrittweise änderte. Im Juni 1944 eröffneten die Alliierten die westliche Front und fingen an, die Wehrmacht vom Westen her zu bekämpfen. Wie vorher unter den Verbündeten besprochen, attackierten auch die russischen Truppen von Osten. Dies bedeutete für die polnische Bevölkerung, dass bald die östliche Frontlinie das gesamte Land durchzog. Die Exilregierung und die hochrangigen Armeevertreter im Land entschieden, dass die Heimatarmee militärisch gegen die Deutschen auftreten, die Macht übernehmen und sich den kommenden russischen Truppen nicht als die Befreiten, sondern als die eigentlichen Machthaber vorstellen soll. Der Höhepunkt der im besetzten Polen koordinierten Aktion “Burza” sollte der Warschauer Aufstand sein.

1. Der Hügel des Warschauer Aufstands in Czerniakow (Stadtteil von Warschau) wurde aus den Ruinen der Stadt aufgeschüttet. Hier die Tafel mit einer kurzen Information darüber (Foto: Natalia Janiszewska),

Warum malten viele die Zukunft Polens, trotz der Aussichten auf das baldige Ende der deutschen Besatzung, in dunklen Farben? Hier ist die Konferenz der Großen Drei aus 1943 in Teheran erwähnenswert: Stalin, Roosevelt und Churchill verständigten sich darüber, dass die östlichen Gebiete Polens an die Sowjetunion fallen und das Land unter russischem Einfluss bleibt. Als Entschädigung soll Polen die östlichen Gebiete Deutschlands bekommen. Der erste, ganz konkrete Schritt ereignete sich am 22. Juli 1944 in Chełm Lubelski, wo sich das „Polnische Komitee der Nationalen Befreiung” bildete. Völlig von Moskau kontrolliert soll es die Keimzelle einer künftigen kommunistischen Regierung in Polen gewesen sein. Trotz allem hofften noch einige Vertreter des polnischen Staates, dass die Situation und Kampf um eigene Unabhängigkeit noch zu gewinnen sei.

Am 1. August 1944 war es dann so weit. Der Anführer der Heimatarmee, Tadeusz Bor Komorowski, entschied, dass der Aufstand um 17:00 Uhr, die sogenannte W-Stunde, anfangen soll. Es gelang den Aufständischen in den ersten Tagen Teile von Śródmieście, Wola, Żoliborz, Ochota und Mokotów aus den deutschen Händen zurückzuerobern (ungefähr die Hälfte der Stadt). Nach den ersten vier Tagen bestand der Verlauf des Aufstands daraus, die eroberten Orte zu verteidigen. Die polnische Militärführung hoffte auf baldige Unterstützung von sowjetischen Truppen, die jedoch ihre Offensive am rechten Weichselufer stoppten. Sie erlaubten es auch nicht, dass die Alliierten die sich schon in russischen Händen befindenden frontnahen Flughäfen nutzten. Warschau wurde Tag und Nacht von den Nazis heftig bombardiert, und die Zivilbevölkerung wurde zur Geisel der tragischen Situation. Auf Himmlers Befehl sollten die deutschen Einheiten zwischen Soldaten und einfachen Menschen nicht unterscheiden. Der Befehl verwirklichte sich mit voller Kraft in Wola, wo vom 5. bis zum 7. August die deutschen SS- und Polizeieinheiten unter der Führung von Heinz Reinefarth zirka 50.000 Menschen erschossen.

Stunde-W-Allee rechts vom Hauptweg
Stunde-W-Allee rechts vom Hauptweg (Foto: Natalia Janiszewska).

Nach 63 Tagen unterschrieb General Tadeusz Bor Komorowski den Kapitulationsakt. Die Soldaten der Heimatarmee gerieten in Gefangenschaft, rund 600.000 Zivilisten wurden aus der Stadt vertrieben, darunter 150.000 wurden zur Zwangsarbeit ins Dritte Reich oder in KZs deportiert. Aus dem nun leeren Warschau fuhren insgesamt ungefähr 30.000 Waggons mit Gütern nach Nazi-Deutschland. Die Stadt musste noch unter dem letzten Befehl Himmlers leiden. Die restlichen Gebäude haben die deutschen Soldaten weitere drei Monate lang systematisch abgebrannt und gesprengt. Die angeordnete Umwandlung der Stadt in Schutt und Asche wurde vollstreckt und zirka eine Million Warschauer verloren ihren Besitz.

8. Die sog. “Untergrund-Ausgabe” mit den Erinnerungen von Tadeusz Bór-Komorowski. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der General in Großbritannien im Exil, wo er sein Buch schrieb. Die offizielle Ausgabe des Buchs war in der Volksrepublik Polen wegen der Zensur nicht möglich (Foto: Natalia Janiszewska).

Das Erinnern an das Massaker bringt einen zum Schweigen. So viele Opfer, ein so großer Verlust, so viel Leid und Trauer… Zirka 150.000 Zivilisten und 16.000 Soldaten der Heimatarmee starben, 25% der Gebäude wurden während des Aufstands vernichtet, weitere 30% schon planmäßig nach der Kapitulation. Ein riesiger Trümmerfriedhof. Das sorgfältige Niederbrennen von Archiven und Bibliotheken schien der traurige Epilog der Intelligenzaktion zu werden. Die Opfer wurden in der Nähe von Piaśnica, Pelplin, in Palmiry und anderen Orten Polens begraben, jetzt sollen noch die materiellen Träger des Gedankenguts und das Kulturerbe weg. Das Schweigen an jedem ersten August um 17:00 Uhr scheint das einzig Richtige zu sein, was man tun kann.

Nach dem Kriegsende kehrten die Warschauer und Warschauerinnen zurück, um die Stadt wieder aufzubauen, jedoch unter sowjetischer Aufsicht. Im Zentrum entstand der Kulturpalast, das Geschenk Stalins von zweifelhafter Schönheit. Auf die Freiheit, für die Polen kämpften, musste man noch über 50 Jahre lang warten. Manche heben hervor, die friedliche Revolution von Solidarność war das Ergebnis der richtig gezogenen Schlussfolgerungen der blutigen Niederlage des Warschauer Aufstands. Hoffentlich wird sie eine bleibende Mahnung für die Zukunft sein.

Natalia Janiszewska