Die polnische Parteienlandschaft am Vorabend der Parlamentswahlen

Der 15. Oktober markiert für viele Beobachter des polnischen gesellschaftspolitischen Lebens eine Zäsur. Die Experten sprechen von Schicksalswahlen und ihre Meinung wird von vielen Durchschnittspolen geteilt.

Polen: Kontinuität oder Umbruch?

Bei den herannahenden Parlamentswahlen gehe es demnach um eine Kontinuität oder um einen Umbruch.

Gemeint ist die Kontinuität in dem schleichenden Wandel vom Liberalismus nach westlicher Art hin zum konservativ-nationalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, dem im europäischen Maßstab das heutige Ungarn zu frönen scheint. Der Umbruch hingegen meint eine Kursänderung, welche das Land erneut auf den Weg bringen würde, den Polen vor dem Jahr 2015 bereits beschritten habe. Nämlich den Weg zu einem europäischen Musterkind.

Welche Parteien treten in Polen an? Was wollen die Parteien?

Ausschlaggebend für den bevorstehenden Urnengang und die daraus resultierenden Folgen sind natürlich die Parteien und ihre Wahlprogramme. Ich möchte Ihnen im Folgenden die wichtigsten davon vorstellen. Nur grob und ohne mich in die für Sie eher uninteressanten Details zu verlieren. Die Reihenfolge der Parteien ist zufällig. Gleichwohl erlaube ich mir jene auszulassen, die auf den Ausgang der Wahlen aller Voraussicht nach keine oder geringfügige Rolle spielen werden.

PIS (Prawo i Sprawiedliwość/Recht und Gerechtigkeit)

Die bisherige Regierungspartei, die eigentlich eine Koalition einiger rechter und konservativer Parteien darstellt, wird im Allgemeinen als national-konservativ beschrieben. In ihren Ursprüngen ließ sie gewisse christdemokratische Ansätze erkennen, nahm aber von diesen zugunsten von populistischen und nationalistischen Parolen und Postulaten zunehmend Abstand.

In ihrem Selbstbild ist sie national-konservativ, propagiert den gesellschaftlichen Solidarismus (also die Interessengemeinschaft des Volkes, ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung seiner Mitglieder) und gilt im Allgemeinen als antieuropäisch. Sie steht für üppige finanz- und sozialpolitische Umverteilung ein, befürwortet eine größere Rolle des Staates in der Wirtschaft und lehnt die Abtreibung und die Formalisierung der Rechte der LGBT-Community weitgehend ab. Ihr Augenmerk bleibt die Familienpolitik im konservativen Sinne. Außenpolitisch setzt sie stark auf die Zusammenarbeit innerhalb der NATO (insbesondere auf die amerikanische Präsenz in Polen) sowie auf den Ausbau des Einflusses der Polnischen Republik in Mittel- und Osteuropa (die sogenannte Drei-Meere-Initiative). Die PIS ist aus den letzten beiden Parlamentswahlen in den Jahren 2015 und 2019 als Siegerin hervorgegangen. Sie kontrolliert das polnische Verfassungstribunal und konnte sich mit Andrzej [andschej] Duda auch bei den Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2015 und 2020 durchsetzen. Ihr Vorsitzender Jarosław Kaczyński gilt als der eigentliche Machthaber in Polen.

KO (Koalicja Obywatelska/Bürgerkoalition)

Ähnlich wie die PIS ist auch ihre größte Widersacherin ein Sammelsurium diverser Parteien und Gruppierungen, die jedoch dem konservativ-, linksliberalen Spektrum entstammen. Angeführt wird sie von Donald Tusk von der liberalkonservativen PO (Platforma Obywatelska/Bürgerplattform). Darüber hinaus vereint sie die Mitglieder der Liberalen (Nowoczesna), der Grünen und einige prominente Sozialdemokraten. Die Koalition macht sich für die Rechte der Minderheiten und Frauen stark – bleibt dabei jedoch ihren christdemokratischen Idealen treu. Sie gilt als proeuropäisch und setzt, wohl als Antwort auf die sozialen Programme der PIS, zunehmend auf Umverteilung und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates.

Ökonomisch rückt sie dabei immer mehr von ihrem Ursprungsgedanken ab, die Wirtschaft der unsichtbaren Hand des Marktes zu überlassen.
In den letzten Wahlen konnte der von der KO angeführte Zusammenschluss aller Oppositionsparteien die Mehrheit im polnischen Senat erlangen und somit einen gewissen Einfluss auf die Legislative ausüben. Der Vorsteher des Senats, der sogenannte Senatmarschall, gilt immerhin als die drittwichtigste Person im Staat. Die KO regiert in allen Großstädten Polens (also in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern) und damit auch in allen 18 Woiwodschaftshauptstädten des Landes (Lebus und Kujawien-Pommern haben jeweils zwei Hauptstädte). Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2020 konnte ihr Kandidat, der Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski [rafau tschaskowski], knapp 10 Millionen Stimmen auf sich vereinen und unterlag damit nur knapp dem Amtsinhaber Andrzej Duda.

Lewica (die Linke)

Lewica [läwitza] ist wohl die einzige Partei an Oder und Weichsel, die nicht dem weitgefassten rechten, bzw. konservativen Spektrum zugeschrieben werden kann. Auch sie stellt eine Vereinigung einiger kleinerer Parteien dar, bei der die ehemaligen Sozialdemokraten (SLD) und die Partei Wiosna (Der Frühling) federführend sind. Sie gilt als feministisch, antiklerikal und macht sich für die Bekämpfung des Klimawandels stark.

Im Unterschied zu der deutschen weitgefassten Linken befürwortet sie dabei allerdings die Atomenergie als Alternative zum Kohlestrom und stärkt der Ukraine kompromisslos den Rücken (im Gegensatz zu der deutschen Partei die Linke). Darüber hinaus setzt sie sich für die Rechte der Minderheiten, insbesondere für die LGBT-Community, ein. Bei den Protesten gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts spielte Lewica eine wichtige Rolle und konnte sich dauerhaft als Sprachrohr der jüngeren Generation, vor allem der jungen Frauen, etablieren. Sie ist proeuropäisch, progressiv und spricht sich für den Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den NGOs aus. Zu ihren wichtigsten Postulaten gehören die Förderung des Sozialbaus und die Einführung der Dienstaltersrente.

Trzecia Droga (Der Dritte Weg)

Auch hierbei handelt es sich um eine Koalition von (diesmal) zwei Parteien. Und zwar aus der ältesten polnischen „Volkspartei“ PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe), die hierzulande bisweilen als die „Bauernpartei“ betitelt wird, und der noch relativ jungen Bewegung Polska 2050 von Szymon Hołownia [schimon howownia]. Beide Parteien werden dem politischen Zentrum zugerechnet, mit einigen Auswuchtungen nach links (gemäßigter wirtschaftlicher Liberalismus) und nach rechts (bestimmte Aspekte der Weltanschauung, zum Beispiel im Hinblick auf die Familienpolitik). Im Allgemeinen folgt Der Dritte Weg den Grundsätzen der Christdemokratie und sieht sich als Alternative zum gefühlt ewigen PIS-KO-Gegenpol. Ihre Leader treten dementsprechend gemäßigt und konziliant auf. Während die PSL ihre Stammwählerschaft eher auf dem Lande sucht (und findet) – daher vermutlich auch die deutsche Bezeichnung der Partei – versucht Polska 2050 die Klientel in den Städten anzusprechen. Die Koalition könnte bei den herannahenden Wahlen zum sprichwörtlichen Zünglein an der Waage werden. Nicht für die PIS, mit der sie die Zusammenarbeit aller Umgänglichkeit zum Trotz ablehnt, sondern für Donald Tusk und seine KO.

Konfederacja (die Konföderation)

Während die Linke in Polen ein weibliches Gesicht hat, hat die extreme Rechte eindeutig ein Männerantlitz. Den Kern ihrer Stammwählerschaft bilden nämlich junge Männer unter 30. Der nationalistisch-konservativen Konföderation, deren Name wohl an die Konföderationen der Adelsrepublik angelehnt ist, wird ein starker Hang zum sozialen Darwinismus und Xenophobie nachgesagt. Sie gilt als äußert europaskeptisch. Gleichzeitig befürwortet sie den wirtschaftlichen Liberalismus und die uneingeschränkte Freiheit des Einzelnen (darunter die der ungezügelten Rede- und Steuerfreiheit). Sie plädiert für die Ausweitung und Liberalisierung des Waffenrechts. Im Unterschied zu PIS tut sich die Konföderation als eine starke Kritikerin von Umverteilung und sämtlichen sozialen Leistungen seitens des Staates hervor. Nichtsdestotrotz wird sie von den Experten als ein möglicher (da einziger) Koalitionspartner für die bisherige Regierungspartei angesehen.

Prägende Wahl im Oktober in Polen

Der Wahlkampf in Polen sowie die Stimmung, die ihn begleitet, sind sehr aufgeheizt. Das gilt gleichermaßen für die Politiker als auch für deren Anhänger. Es wird kein Pardon gewährt noch wird welches von der Gegenseite erwartet. Tabus scheint es nicht mehr zu geben. Die meisten Experten sind sich einig: Die Parteien, die eine Aussicht auf den Wahlsieg haben, liefern sich einen Schlagabtausch, der die politische und gesellschaftliche Landschaft Polens nachhaltig prägen wird. Die Regierung, die aus diesem eigentümlichen Kulturkampf hervorgehen wird, wird alle Hände voll zu tun haben Polen wieder zu versöhnen. Mit dem Ausland, aber vor allem mit sich selbst.