In Polen, am Rande

Sind Sie gerade auch in Polen unterwegs? Klappern Sie die Must-Sees des Landes ab? Krakau, Danzig, Breslau und so weiter? Das ist toll und gut so. Und dennoch sollten Sie auf dem Weg zum nächsten Touristen-Hotspot ab und an mal rechts ranfahren. Oder eben links, wie das bei mir der Fall war.

Strohwitwer

Seit über zwei Wochen bin ich Strohwitwer. Sprich: Ich habe sturmfreie Bude. Wäre ich 20, wäre es megageil (mit diesem Wortlaut!). Mit 30 würde ich mich auch noch drüber freuen. Als gestandener Erwachsener Anfang 40, erkenne ich allerdings gewisse Nachteile solch einer Begebenheit. Und erlebe sie. Einer der größten Nachteile: Alle Freunde, die ich ursprünglich einladen oder treffen wollte sind längst eingespannt. Beruflich oder familiär. Aus der Zeit des Feierns wurde also eine Zeit der Stille. Und des Arbeitens. Na ja, ein bisschen Besuch hatte ich dann doch noch gehabt und war selbst für ein paar Tage unterwegs. Und da ich auf niemanden Rücksicht nehmen musste (bis auf die anderen Verkehrsteilnehmer versteht sich), konnte ich einige Orte besuchen, die ich ansonsten nur aus dem Fenster eines vorbeifahrenden Autos kannte.
Und damit zurück auf die Straße.

Am Rande

Obwohl ich aus Niederschlesien stamme, hat mich das Schicksal auf vielfältige Weise mit der Region Westpommern verbunden. Oder mit Hinterpommern, wenn Sie die deutsche Blickrichtung bevorzugen. Ich bin folglich vergleichsweise oft in der Gegend. Darunter häufig in der Umgebung von Chociwel, einem pittoresken, beschaulichen Ort mitten im pittoresken, beschaulichen Nichts. Die hier einst von den Nazis teilweise erbaute Reichsautobahn Berlin-Königsberg, deren Spur sich kurz vor der Stadt im Felde verläuft, scheint davon zu wissen und unterstreicht diesen Eindruck perfekt.
Ein Stück weiter, am Rande der Droga Krajowa 20 (das polnische Pendant zur Bundesstraße), kurz nach der Tankstelle mit dem Adlerkopf und gegenüber dem Supermarkt dessen Name an die Urzeitgiganten erinnert, befindet sich eine Bar. Eine orientalische Bar. Ich wollte schon immer mal hin. Dieses Jahr hat es endlich geklappt.

Die Bar

Mein unbändiger Wunsch, dort hereinzuschauen, hatte zwei Ursachen. Erstens liebe ich die asiatische Küche – oder das, was man uns in Europa als solche auftischt. Zweitens – entschuldigt mal – eine orientalische Bar in einem pommerschen Dorf? Einfach so? Das geht doch gar nicht!
Es war kurz nach 14 Uhr als ich eintraf. Die Hälfte der Tische war besetzt, was für gewöhnlich ein gutes Zeichen ist. Es scheint zu schmecken und die Zutaten liegen nicht tagelang unberührt. Am Tresen erwartete mich die erste Überraschung. Die Bestellung nahm keine Asiatin auf, sondern eine Polin in ihren besten Jahren. Die zweite Überraschung war die Karte, voller asiatischer Gerichte, die für mich nicht so recht mit der ersten Überraschung korrelierte.
Nach dem leckeren (und günstigen) „Hähnchen in fünf Geschmacksrichtungen“ mit extra Sojasoße (ich weiß, ist ungesund) konnte ich nicht umhin die Dame zu fragen, wie sie denn dazu kommt, in Chociwel, wo sich selbst die Reichsautobahn verläuft, eine orientalische Bar zu führen? Sie schaute mich an und schenkte mir ein routiniertes Lächeln. War ja klar, dass ich nicht der erste bin, der danach fragt.

In einem Land vor unserer Zeit

Die Barinhaberin erzählte mir, dass sie vor 30 Jahren in einem staatlichen landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet hatte, von denen es hier in der Gegend zur Zeiten der Volksrepublik viele gab. Danach kam die wirtschaftliche Transformation. Polen wurde demokratisch und kapitalistisch. Gut für das Land, schlecht für viele Menschen. Jedenfalls damals, zu Beginn des Prozesses, als die akuten Nachteile die künftigen Vorteile zu überwiegen schienen. Der unrentable Landwirtschaftsbetrieb wurde praktisch über Nacht geschlossen, die meisten Beschäftigten, darunter auch meine Erzählerin, wurden arbeitslos. Eine Geschichte, die man von Thüringen bis nach Bulgarien oft zu hören bekommt. Aber die neue Zeit brachte auch neue Möglichkeiten. Ihr Bruder war einer der ersten, die sie nutzten. Er heiratete eine Vietnamesin und eröffnete ein asiatisches Restaurant in Stettin (wohl in der Nähe der Hakenterrassen). Mangels anderer Beschäftigungen ging meine Gesprächspartnerin bei ihm in die Lehre, oder besser gesagt bei ihr – ihrer Schwägerin. Zwei Jahre lang lernte sie an ihrer Seite die Geheimnisse der vietnamesischen Kochkünste kennen. Sie schnippelte, machte sich den Wok untertan und lernte die Soja- und Austern-Sauce sowie das Sesam-Öl zu schätzen, bis alle Beteiligten der Meinung waren, dass sie flügge geworden ist. Sie ging zurück nach Chociwel und eröffnete die Bar. Der Rest ist Geschichte. Eine schmackhafte wohlgemerkt.

Polen steckt voller solcher Erzählungen. Man braucht im Grunde nur anzuhalten.
Und einen Soundtrack, denn jede gute Geschichte braucht eine musikalische Untermalung. Diese habe ich in der Bar aufgeschnappt: https://youtu.be/ErVSGS9m22o