Vom Westen und Osten. Und dem dazwischen.

Eigentlich gäbe es einige über die Sommerferien angestaute Themen, die für das deutsch-polnische Gefüge wichtiger wären, als das Leitmotiv des vorliegenden Beitrags. Die Verseuchung der Oder beispielsweise, oder die deutschlandfeindliche Propaganda[1], die derzeit in Polen verbreitet wird – ja selbst oder gerade von den höchsten Regierungsvertretern, Jarosław Kaczyński miteingeschlossen. Wenn Sie also Lust auf ein Schlammbad verspüren nur zu. Hier, hier, hier und hier finden Sie eine saftige Kostprobe. Ich persönlich verzichte lieber. Ich möchte kein zweites Mal heute duschen müssen. Ist schlecht für die Haut.

Der Übergang

Außerdem habe ich gestern eine Sendung geschaut, die auf den ersten Blick nichts mit dem eingangs gesagten zu tun hat. Auf den zweiten Blick aber schon. Es könnte sogar sein, dass die Arte-Sendung mit dem vielsagenden Titel „Lieber Westen, wir müssen reden“ tatsächlich eine (Teil-)Erklärung für das Verhalten einiger polnischer Entscheidungsträger liefert. Finden wir gemeinsam heraus, was es damit auf sich hat.

Nun also zum Wesentlichen

Für den Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland viele vorgeschobene Gründe geliefert. Einer davon lautete: Man fühle sich vom Westen ignoriert und nicht ernstgenommen.

Liebe Russinnen und Russen, wenn dieser Grund legitim wäre, müsste der Westen aus dem Stand mehrere Verteidigungskriege gegen die Länder zwischen der Oder und der russischen Grenze führen. Allen voran mit dem heutigen Polen.

Wo liegt der Osten?

Wenn es nach Henryk Broder und vielen Deutschen ginge, beginnt der Osten etwa 80 Kilometer östlich der Bundeshauptstadt Berlin und hört irgendwo bei Kamtschatka auf. Polen, Ukraine, Moldau (und Russland!) sind demnach mehr oder weniger das Gleiche. An dieser Haltung hat nicht einmal der russische Angriffskrieg gerüttelt, der doch eigentlich dem allerletzten Wicht klar machen müsste, dass es nicht den einen Osten gibt. Ich möchte allerdings nicht über Herrn Broder ablästern. In der Tat schätze ich ihn und sein kompliziertes und fundiertes Verhältnis zu Polen sehr (der Mann ist in Kattowitz geboren). Darüber hinaus kann ich spontan mehrere Beispiele dafür liefern, dass er in der Tat Recht hat. Also nicht, dass Polen das gleiche sei wie Moldau, aber sehr wohl dafür, dass viele Deutsche dies tatsächlich glauben.

Automatismen, Klischees, Vorurteile

Der menschliche Verstand ist der vollkommenste Computer der Welt. Kein maschineller Rechner kann ihm das Wasser reichen. Die Datenmenge, die unser Gehirn in einer Sekunde verarbeitet ist für seine blechernen Pendants schier unerreichbar. Dennoch stößt auch dieses Wunderwerk an seine Grenzen und neigt bisweilen dazu komplexe Dinge mitunter stark zu vereinfachen. Zu diesen Dingen gehört vieles, womit wir im Alltag zu tun haben und was wir größtenteils automatisch abwickeln. Das ist gut so und nützlich. Andernfalls müsste ich mich stets auf die Atmung konzentrieren während ich diesen Text abtippe oder könnte nicht gehen, während ich mir auf dem Weg zur Straßenbahn mit einem heißen Kaffee die Zunge verbrenne.

Leider schalten sich diese Automatismen nicht nur bei simplen Verhaltensabläufen ein wie dem Kaffeetrinken oder der Atmung. Sie werden auch dann aktiv, wenn es um komplexere Dinge geht. Zum Beispiel um Situationen, in denen wir anderen Menschen begegnen.

Es kommt allerdings noch dicker. Von der Datenmenge überwältigt, liefert uns unser Gehirn häufig eine vorgefertigte Meinung noch bevor wir bestimmten Menschen über den Weg laufen. Wir glauben daher ganze Länder und Kulturen zu kennen, noch eher wir in Kontakt mit ihnen treten. Das macht durchaus Sinn, denn es erspart uns viel Zeit und jede Menge Energie. Dazu eine kleine Anekdote zur besseren Veranschaulichung.

Vor Jahren nahm ich an meiner Bielefelder Alma Mater an einer Umfrage teil. Darin wurde unter anderem ermittelt, wie sehr ich mit der Hochschule zufrieden war. Nun, ich war es sehr und gab das auch so an. Das widerstrebte der Fragestellerin ziemlich (die Uni galt bei den meisten Studis als unten durch).  Auf der Suche nach einer Erklärung für meine Antwort fragte sie mich also, woher ich denn komme. „Aus Polen“, antwortete ich unbedenklich, daraufhin sie: „Na dann ist doch klar, dass er dir hier gefällt, so abgewrackt es hier ist“: Ich: „Warst du schon mal in Polen?“. Sie: „Nee. Wozu?“. Sie kannte Polen gar nicht, glaubte aber zu wissen, wie es dort zugeht und was meiner Antwort zugrunde lag.

Ziemlich effizient, nicht wahr? Und bescheuert obendrein.

Der Osten als Feel-Good-Konstrukt

Ich möchte hier keine Abhandlung über die Funktion und die Rolle von Vorurteilen verfassen. Das ist nicht der Punkt. Gleichwohl möchte ich darauf aufmerksam machen, dass sie unter anderem dafür sorgen, dass wir uns gut fühlen. Das ist wichtig.

Denn in unserer Vorstellungskraft gibt es immer jemanden, dem es noch schlechter geht als uns selbst und auf den wir folglich herabschauen können. Gleichzeitig gibt es aber auch Menschen, die wir bewundern und zu denen wir aufschließen wollen. Das eine ist der sogenannte Abwärts-, das andere der Aufwärtsvergleich. Während das eine uns also morgens aufstehen lässt, lässt uns das andere, zumindest der Theorie nach, besser werden wollen.

Auf Deutschland und Polen bezogen heißt es kurzum: Viele Deutsche fühlen sich besser, wenn sie glauben, dass es den Polen schlechter gehe als ihnen. Doch keine Sorge, die Polen haben selbstredend auch ihren „Osten“. Er heißt seit einigen Jahren  Ukraine. Der Krieg hat natürlich in der Wahrnehmung vieles neugeordnet. Dennoch wage ich zu behaupten, dass die Ukrainer für die Polen nach wie vor das sind, was die Polen gemeinhin für die Deutschen. Im Umkehrschluss heißt es natürlich auch, dass die Ukrainer zu den Polen hinaufschauen, die Polen hingegen zu den Deutschen. Was aber, wenn das nicht mehr der Fall ist und einer der Beteiligten bei diesem eigentümlichen Gesellschaftsspiel plötzlich nicht mehr mitmacht?

Genau das ist in Polen derzeit der Fall

Das Bild Deutschlands als Quell der mustergültigen Inspiration ist längst der antideutschen Propaganda gewichen. Polen habe sich schließlich von den Knien erhoben – so jedenfalls das Narrativ der polnischen Regierungspartei. Nun entstehe an der Weichsel ein neues Europa, mit der Polnischen Republik im Zentrum. Ein endlich ernstzunehmender „Lider regionu“ – dieser sowie andere schmeichelhafte Titel, werden nunmehr in den Staatsmedien unseres östlichen Nachbars bemüht um Polen Geltung zu verschaffen. Deutschland hingegen wird zusehends als der Erzfeind hingestellt, der nach dem Glück und Erfolg des neuen, selbstbewussten Polens heimtückisch trachtet.

Ich möchte nicht vertiefen, wie sehr dieses Bild in der Realität gründet (nämlich gar nicht). Wie gesagt, ich würde ungern zum zweiten Mal duschen. Vielmehr möchte ich davon sprechen, wie wir in Deutschland (und auch anderswo im Westen) gegebenenfalls zu diesem Wahn beitragen.

Überraschung

Ich glaube, in der Bundesrepublik sind derzeit viele von der Vitalität des polnischen Staates überrascht. Wer Nachrichten verfolgt, der weiß, wie viel das und die Polen angesichts des Krieges in der Ukraine in dieser Zeit leisten – wirtschaftlich, militärisch und humanitär… Es sei denn man guckt N-TV, dann weiß man es unter Umständen nicht. In der neuerlichen Zusammenfassung des Krieges (anlässlich seiner sechsmonatigen Dauer), wurden seitens des Senders alle Akteure, selbst die aus den hintersten Reihen, erwähnt und gewürdigt. Alle bis auf Polen.

Das ist sehr bedauerlich, hat aber auch Positives. Denn es ist genau dieses ignorante Vorgehen welches uns vor Augen führt, wie sehr unsere vorurteilsbehaftete Wahrnehmung unser Bild von der Wirklichkeit beeinflusst.

Denn was als real und erwähnenswert empfunden wird, ergibt sich nie von selbst. Es ist immer eine Interpretationssache. Wir sehen nur das, was wir sehen wollen und entwerfen mithin Wirklichkeiten, in denen wir leben. Und eine dieser Wirklichkeiten ist ein ganz bestimmtes Bild vom Europäischen Osten, darunter auch von Polen. Grau, gefährlich, bestenfalls exotisch und vor allem eins: einheitlich. Plattenbauten, Alkoholismus, Armut, schlechte Straßen und Kriminalität von der Oder bis Wladiwostok. Oder, quasi als romantisches Gegenbild: Schneereiche Winter, Gastfreundschaft und hübsche Frauen, die mit Emanzipation nichts anzufangen wissen. Das ist Polen wie wir es hierzulande kennen und lieben (oder wahlweise fürchten). Und dieses Polen kann per se keine große Rolle in dem Ukrainekrieg spielen oder sonst etwas leisten, was von Bedeutung oder Interesse wäre.

Fazit

Die bittere Abschlusserkenntnis lautet also: Wenn wir uns (zu Recht) über die unverschämte antideutsche Propaganda in Polen aufregen, sollten wir rekapitulieren, dass wir hierzulande ähnlichen Mechanismen und Deutungsmustern frönen.

Wer von Deutschland und der EU ungeniert als vom IV Reich plappert, der verzapft denselben Mist wie derjenige, der in Polen den ewigen, gleichgeschalteten, obskuren Osten sieht, in dem es nichts zu sehen, nichts zu erleben und von dem es nichts zu berichten gibt.

 

[1] Ähnlich wie der Polenbeauftrage Dietmar Nietan, scheue ich nicht das Kind mittlerweile beim Namen zu nennen.