Kennen Sie Ostdeutschland, also die ehemalige DDR? Thüringen beispielsweise? Nicht? Tja, das ist schon mal eine der vielen Gemeinsamkeiten zwischen Ostdeutschland und Polen: Vielfach unbekannt. Im Folgenden möchte ich auf einige weitere Gemeinsamkeiten eingehen und Überlegungen anstellen, was daraus folgert. Haben Sie Interesse?
„Ist mir zu braun da unten“
So schrieb ein guter Freund von mir aus Schleswig-Holstein, als er meine Statusmeldung mit Fotos aus Thüringen im Handy sah. „Die Polen wählen Faschisten“, schrieb eine unserer Followerinnen auf Facebook, als Reaktion auf die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts bezüglich des Anwendungsvorrangs des nationalen Rechts vor dem europäischen. Dass die „da unten“, bzw. die „im Osten“ rechts oder gar faschistisch wählen, ist im weitgefassten Westen (also auch im Norden und Süden) der Bundesrepublik durchaus verbreitet und fast schon salonfähig. Die Ursachen für das Wahlverhalten „von denen dort“ werden dagegen eher selten thematisiert. Sonst müsste man sich womöglich an die eigene Nase fassen.
Stellen Sie sich vor, Sie leben ein produktives Leben. Sie sind ein engagiertes Mitglied der Gesellschaft, der seinen Pflichten nachgeht und der aus seiner guten, ostdeutschen („Cartesianischen“) Bildung heraus sich für den Weltfrieden einzusetzen glaubt. Und jetzt stellen Sie sich vor, es kommen plötzlich Leute, die all das nicht nur in Frage stellen, sondern Ihnen weißmachen, dass es sich bei ihrem Selbstbild um einen Trugschluss handelt. Sie haben im Grunde alles falsch gemacht und müssen es uneingeschränkt einsehen. Und überhaupt sollten Sie dankbar sein, dass Ihnen endlich jemand die Augen öffnet. Und aus dieser Dankbarkeit sollten Sie ab sofort alles richtig machen. Nur gefälligst schnell, sonst verpassen sie endgültig den Anschluss.
Was ich beschrieben habe, nennt man hierzulande die Wende. Im Osten Deutschlands bezeichnen es viele als Biographiebruch. Das erfuhr ich in einem Gespräch, das ich in Arnstadt geführt habe.
Transformacja {transformazia}
Auch in Polen fand eine Wende statt. Eine selbstgemachte, die sogar noch vor der Wende in Deutschland einsetzte. Dort bezeichnet man sie als Transformacja, die Transformation der sozialistischen Plan- in eine freie Marktwirtschaft. Viele schieben seit jeher noch das Adjektiv „wilde“ davor. Ich habe allerdings das Gefühl, dass, wenngleich das Jahr 1989 Polen wirtschaftlich und politisch grundlegend veränderte, auf mentaler Ebene vieles zunächst beim Alten blieb.
Nein, ich meine damit nicht „kommunistisch“. Nein, nichts dergleichen. Das Land und die Leute blieben zwar in ihrer Mehrheit nach der Wende so, wie sie in der Volksrepublik waren. Das heißt, sie blieben katholisch und konservativ, mit einer großen Prise Nationalstolz. Erst nach dem EU-Beitritt, spätestens seit dem Zutritt zum Schengen-Raum und der damit einhergehenden uneingeschränkten Freizügigkeit, fiel aber vielen Polinnen und Polen auf, dass ebendiese Eigenschaften, die sie bereits in der Zeit des Ostblocks von den sozialistischen Mitstreitern abhoben, sie nun genauso von den EU-Partnern unterscheiden.
Meine Landsleute machten die Erfahrung, dass „ihr“ katholisches, auf Tradition, Nationalität und konservativen Werten basierendes Europa und die pluralistische, multikulturelle, postnationale Europäische Union nicht zwangsläufig identisch sind. Es sah und sieht schon eher danach aus, als würden sie im Grunde unvereinbare Gegensätze darstellen. Deswegen schütteln die meisten Westeuropäer den Kopf, wenn Kaczyński davon spricht, Europa müsse zu seinen christlichen Wurzeln zurück. Und deswegen scheint das inoffizielle Staatsoberhaupt Polens all die anderen Einflüsse zu vergessen, die den Kontinent insbesondere in den letzten 250 Jahren maßgeblich beeinflusst haben.
Diese Diskrepanz muss man als Polin und Pole erstmal verdauen. Erst recht, nachdem man sich 2004 noch gefreut hat „zurück in das europäische Haus zu kommen“.
Im Herzen Europas
Wo ist die Mitte Europas? Und wo die von Deutschland? Und Polen? Wo ist eigentlich Polen in Europa zu verorten? Und warum ist das denn so wichtig?!
Polen sei schon immer in Europa gelegen. Ja, in Polen schlage gar das Herz des Kontinents, betonen immer wieder die polnischen Politiker*innen aus dem rechten Spektrum. Keine Europäische Union, keine fremden Machthaber oder Staaten können demnach Polen aus Europa ausschließen.
Nun, geographisch mag das zutreffen. Doch was heißt das schon? Hier geht es nicht bloß um die Lage, auf die man ohnehin keinen bis wenig Einfluss hat und mit der man sich daher nur schwer brüsten kann. Denn Europäer sind der Lage nach sogar die Tschuwaschen östlich von Kasan. Spätestens jetzt müsste es also offensichtlich sein, dass es hierbei um etwas anderes geht. Europäer zu sein ist eine bestimmte, aus der Geschichte des Kontinents entwachsene, prozessartige Lebensweise, die einem ständigen Wandel unterzogen ist. Die Geschichte dieses Wandels, seine Abschnitte: Die Antike und das Mittelalter, die Renaissance und die Aufklärung, die Industrielle Revolution und das Informationszeitalter, machen uns, die Europäer, erst zu dem, was wir heute sind. Und dieses „dem“ ist derzeit offen, auf Inklusion und nicht Exklusion ausgerichtet. Europäer kann jeder werden, der sich dazu bekennt. Die geographische Herkunft der Kandidaten spielt dabei die geringste Rolle. Deswegen sind Amerikaner und Australier, die ideologischen Nachfahren der Europäer, uns heute viel Näher als z.B. die Baschkiren am Ural.
Kurzum, man kann mitten in Europa liegen und sich trotzdem weit außerhalb davon befinden.
Im Herzen Deutschlands
„Sie sind hier doch im Herzen Deutschlands!“ erwiderte ein Restaurantbesitzer, als ich höflich sein wollte und ihm mitteilte, dass es hier, in Thüringen, sehr schön sei. „Was haben sie denn erwartet?“, kam noch hinterher. Ich geriet in die Defensive und antwortete verlegen: „Ich weiß, ich weiß, ich wollte nicht, dass sie den Eindruck bekommen, dass ich angenehm überrascht bin“. Obwohl ich es war.
Die älteste Stadt Deutschlands
Wenn es in der Gegenwart hapert, wird oft die Tradition bemüht und als Konterpart zum hier und jetzt aufgebaut. Denn in der glorreichen Vergangenheit glaubt man ein Heilmittel gegen die Unzulänglichkeiten der Gegenwart gefunden zu haben.
Polen sei intolerant? Aber, aber. Vor 500 Jahren war das Land ein Vorreiter in Sachen Toleranz und Offenheit. Als in Europa Scheiterhaufen brannten und Judenpogrome zum Alltag gehörten, suchten die Betroffenen Zuflucht in Polen. Und fanden sie! Die Polen haben demnach die Toleranz mit der Muttermilch eingesaugt und basta!
Der Nationalstolz deckelt die Entwurzelung, oder auch nur den Anflug davon.
Leitkultur und Tradition sollen hingegen die gesellschaftspolitischen Deutungsdiskurse aufwiegen.
LGBT-Freie-Zonen in Polen? Kein Problem. Wir kontern mir der multikulturellen Gesellschaft Polens A.D. 1573. Thüringen denkt kleingeistig? Aber hier hat doch Goethe gelebt und geschrieben!
Tradition an sich ist nichts Verkehrtes. Im Gegenteil, „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“. Ich mag dieses Zitat von Wilhelm von Humboldt. Es beläuft sich auf Vergangenes, ist aber zukunftsgerichtet. Vergangenheit sollte also nicht ihrer selbst willen herangezogen und glorifiziert, sondern immer als ein Lehrbuch verstanden werden Dinge besser anzugehen und zu meistern als vordem.
Wer die Geschichte nur dafür bemüht, sein nationales Ego aufzubauschen, der läuft Gefahr, sich der Lächerlichkeit Preis zu geben. Arnstadt sei die älteste Stadt Deutschlands? Mir fallen spontan ein Dutzend Städte am Rhein ein, die darüber lachen. Ja, sie sind von den Römern gegründet worden, aber das ist London doch auch. Macht es die Stadt an der Themse deswegen weniger britisch?
Fazit
Bei allem Nachsinnen über die Gemeinsamkeiten zwischen Ostdeutschen und Polen sollte man eine ganz bestimmt nicht aus den Augen verlieren.
Die große Mehrheit von ihnen wählt gar nicht rechts.