Im Jahre 1989 betrug das Durchschnittseinkommen an der Weichsel etwas mehr als 200 000 Złoty (PLN)[1]. In der heutigen Währung wären das 20 PLN, also circa 5 Euro. Das Geld hätte zu damaligen Preisen für etwa 68 Kilo Zucker oder 11 Kilo Schweineschinken gereicht[2]. Falls man denn welche bei der grassierenden Lebensmittelknappheit bekommen hätte. Die Inflation belief sich auf satte 640 Prozent und stieg. Sie sollte schon bald jeden Polen zum Millionär machen[3]. Das polnische Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug knapp 67 Milliarden Dollar[4]. Im gesamten Land gab es 353 Kilometer Autobahnen (davon 241 „echte“ und 112 Kilometer zweispurige Schnellstraßen)[5]. Wirtschaftlich und politisch lag der polnische Staat am Boden.
Lassen Sie diese Zahlen ruhig auf sich wirken, bevor Sie weiterlesen.
Zwischen Ohnmacht und Erfolg
Die Lage war ernst, selbst im Vergleich zu postkommunistischen Nachbarstaaten. Und wie jede außerordentlich ernste Lage, erforderte auch diese außerordentliche Maßnahmen. Die neugewählte demokratische Regierung Polens unter dem Christdemokraten Tadeusz Mazowiecki {tadäusch masowietzki} erkannte es und leitete eine Reihe radikaler Reformen ein. Mazowiecki wurde ohnmächtig, während er das Exposé seines Kabinetts verlas. Als er zu sich kam, pointierte er gekonnt, Polen werde sich wieder erholen, so wie er sich wieder erholt hat[6]. Hollywood hätte diese Szene nicht besser schreiben können.
Leszek Balcerowicz {leschek balzerowitsch}, ein damals junger und weltoffener Ökonom, wurde zum Vater der polnischen Transformation, wie der Prozess der Umwandlung sozialistischer Plan- in eine kapitalistische Marktwirtschaft bezeichnet wurde. Die ersten Jahre waren dennoch hart. Geradezu eine Zumutung. 1993 erreichten die Inflation, Armut und Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt. Statistisch lebten die Polen zu diesem Zeitpunkt schlechter als 1989. Eine Vorstellung, die zum Wendejahr undenkbar schien[7].
Und doch: in den frühen 1990er Jahren begannen die angestoßenen Reformen endlich zu greifen. Polen verzeichnete bereits 1992 zum ersten Mal ein Wirtschaftswachstum. Wer hätte damals gedacht, dass dieser Prozess die nächsten 30 Jahre anhalten und sich unglaublich resistent gegen wirtschaftliche Wirrungen und Krisen sämtlicher Art zeigen würde. Polens Wirtschaft trotzte nämlich nicht nur der Weltfinanzkrise von 2008, sondern übersteht offenbar bemerkenswert gut die gegenwärtige Pandemie[8]. „Polen schreibt seine einzigartige postkommunistische Erfolgsgeschichte selbst in Pandemiezeiten fort, als wäre Corona ökonomisch gesehen nur ein kleiner Schnupfen.“[9]
Wie man aus 20 PLN 5160 macht
Im Jahre 2021 beträgt das Durchschnittseinkommen an der Weichsel etwas mehr als 5160 PLN[10], also circa 1150€. Das Geld reicht um 2,5 Tonnen Zucker oder über 330 Kilo Schweineschinken zu kaufen[11]. Nur, dass keiner mehr Zucker oder Schweinefleisch als Maßstab heranzieht. Die Inflation beläuft sich auf 3,4 Prozent[12] und bleibt stabil. Im ganzen Land gibt es 116 000 Dollar-Millionäre[13]. Das polnische BIP beträgt knapp 607 Milliarden Dollar[14]. Im gesamten Land gibt es 4337 Kilometer Autobahnen und zweispurige Schnellstraßen, weitere 730 Kilometer sollen bis 2022 fertiggestellt werden[15]. Wirtschaftlich und sozial geht es dem polnischen Staat so gut wie nie zuvor.
Was hat das alles mit Deutschland zu tun…
Die Entwicklung des polnischen „Wirtschaftswuderlandes“[16] findet natürlich nicht in einem Vakuum, sondern im europäischen Gefüge statt. Und das europäische Gefüge heißt für Polen zuvorderst Deutschland. 2020 ist Polen mit 122,9 Milliarden Euro Handelsvolumen zum fünftwichtigsten Wirtschaftspartner der Bundesrepublik geworden[17]. Als Lieferland ist der östliche Nachbar sogar noch höher einzustufen. Im Coronajahr hat Polen die USA vom dritten Platz verdrängt. Nur noch China und die Niederlande mit ihrer wuchtigen Gas- und Ölindustrie, sind für die deutsche Wirtschaft von größerer Bedeutung[18].
Wie beeindruckend die wirtschaftliche Leistung Polens ausfällt und wie signifikant sie für die deutsche Wirtschaft ist, zeigt der Vergleich mit Russland – einem Land, dem die bundesrepublikanische Politik und die deutsche Öffentlichkeit unvergleichlich mehr Bedeutung beimessen, als dem Land an der Weichsel[19].
…und was mit Russland
Das Flächenmäßig größte Land der Welt ist gerademal der viertgrößte Handelspartner Deutschlands. Nein, nicht weltweit, sondern in Osteuropa![20] Während die deutsch-polnischen Wirtschaftsverflechtungen wachsen und jedes Jahr einen neuen Rekord beim Handelsaustausch aufstellen, schrumpft die Bedeutung der russischen Wirtschaft und des russischen Marktes für die deutschen Firmen kontinuierlich. 2020 verringerte sie sich abermals auf 44,9 Milliarden Euro[21], also etwa auf ein Drittel des deutsch-polnischen Handelsvolumens. Corona und die verhängten Sanktionen trugen sicherlich dazu bei. Allerdings hatte Corona auch Auswirkungen auf den Austausch mit Polen. Und vor den Sanktionen war der Wert der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland ähnlich gering wie heute. Trotz Gaslieferungen.
So sehr mir die Idee missfällt, Polen und Russland in ihrer Bedeutung für die Bundesrepublik gegeneinander auszuspielen[22], so sehr plädiere ich auch dafür, Polen stärker ins deutsche Bewusstsein zu rücken. Und zwar gemäß seiner wirtschaftlichen Signifikanz für den Standort Deutschland. Nicht mehr und nicht weniger.
Erfolgsrezept
Doch wie kommt es, dass die sprichwörtliche „polnische Wirtschaft“, die einst für Unordnung und Rückständigkeit stand[23], heute eher das Gegenteil bedeutet?
Für jene, die tiefer in die Materie eindringen wollen, ist das entsprechende Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts aus Darmstadt zu empfehlen[24]. Der Leser unseres Blogs ist aber an dieser Stelle auf die Vielfältigkeit der polnischen Wirtschaft verwiesen, die sich vor allem in der Pandemie ausgezahlt hat. Das heutige Polen exportiert viele Agrargüter. Gleichzeitig ist es aber auch ein starker Industriestandort, der unter anderem in Deutschland viele Produkte anbietet. Darüber hinaus zeichnen das Land viele erfolgreiche kleine und mittlere Unternehmen aus. Auch die Baubranche ist schon seit Jahren am Boomen. In Polen wird schließlich so viel gebaut, wie sonst kaum auf dem europäischen Kontinent[25].
Na und?
Ehrlich, ich bin froh immer mehr solche Meldungen in der deutschen Presse zu vernehmen, wie jene, die ich für diesen Beitrag bemüht habe. Ich fürchte jedoch, dass sie, wenn man sie überdosiert, eine künstliche, rosarote Blase erzeugen, die in der deutschen Öffentlichkeit schnell zum Platzen gebracht wird. Wer wissen möchte was ich damit meine, der möge sich die Kommentare unter dem Artikel von Philipp Fritz mal antun[26]. Vorzugsweise mit einem Kamillentee griffbereit.
[1] https://www.zus.pl/baza-wiedzy/skladki-wskazniki-odsetki/wskazniki/przecietne-wynagrodzenie-w-latach
[2] https://superbiz.se.pl/wiadomosci/tyle-zarabialismy-4-czerwca-1989-roku-zobacz-co-moglismy-za-to-kupic-zdjecia-aa-DypJ-ucuQ-Cjmx.html
[3] https://tvn24.pl/biznes/z-kraju/od-4-czerwca-1989-do-2019-30-lat-wolnej-polskiej-gospodarki-ra941461-4507830
[4] https://pl.wikipedia.org/wiki/Gospodarka_Polski_Ludowej#Stagnacja
[5] https://wydarzenia.interia.pl/raporty/raport-polskiedrogi/informacje/news-historia-polskiego-drogownictwa-od-wielkiej-ruiny-do-sieci-a,nId,1939322
[6] https://oko.press/30-lat-temu-mazowiecki-zaslabl/
[7] https://tvn24.pl/biznes/z-kraju/od-4-czerwca-1989-do-2019-30-lat-wolnej-polskiej-gospodarki-ra941461-4507830
[8] https://www.rp.pl/Gospodarka/210509992-Polska-gospodarka-odporna-na-Covid.html
[9] https://www.badische-zeitung.de/der-lewandowski-der-weltwirtschaft–201750499.html
[10] https://www.zus.pl/baza-wiedzy/skladki-wskazniki-odsetki/wskazniki/przecietne-wynagrodzenie-w-latach
[11] https://superbiz.se.pl/wiadomosci/tyle-zarabialismy-4-czerwca-1989-roku-zobacz-co-moglismy-za-to-kupic-zdjecia-aa-DypJ-ucuQ-Cjmx.html
[12] https://www.bankier.pl/wiadomosc/Inflacja-w-Polsce-w-grudniu-w-dol-W-calym-2020-r-najwyzsza-od-8-lat-8037509.html
[13] https://www.bankier.pl/wiadomosc/Ilu-jest-milionerow-w-Polsce-7760317.html
[14] https://pl.wikipedia.org/wiki/Gospodarka_Polski#Gospodarka_I_Rzeczypospolitej
[15] https://pl.wikipedia.org/wiki/Autostrady_i_drogi_ekspresowe_w_Polsce#2022
[16] https://www.badische-zeitung.de/der-lewandowski-der-weltwirtschaft–201750499.html
[17] https://ahk.pl/medien/aktuelles/news-details/polen-nun-fuenftwichtigster-handelspartner-deutschlands
[18] https://www.badische-zeitung.de/der-lewandowski-der-weltwirtschaft–201750499.html
[19] https://www.handelsblatt.com/politik/international/unterschaetztes-osteuropa-polen-ueberholt-die-usa-als-deutschlands-drittgroesstes-lieferland/27199652.html?ticket=ST-6950183-AIPsz9KkrivbWwHoUDyo-ap3
[20] https://www.handelsblatt.com/politik/international/unterschaetztes-osteuropa-polen-ueberholt-die-usa-als-deutschlands-drittgroesstes-lieferland/27199652.html?ticket=ST-6950183-AIPsz9KkrivbWwHoUDyo-ap3
[21] https://www.welt.de/politik/ausland/article231333715/Aussenpolitik-Der-wichtigste-Partner-Deutschlands-muesste-Polen-heissen.html
[22] Ebd.
[23] https://www.wortbedeutung.info/polnische_Wirtschaft/
[24] https://instytutpolski.pl/leipzig/2019/06/04/polnische-wirtschaft/ bzw. https://www.deutsches-polen-institut.de/publikationen/jahrbuch-polen/jahrbuch-polen-2020/
[25] https://www.badische-zeitung.de/der-lewandowski-der-weltwirtschaft–201750499.html
[26] https://www.welt.de/politik/ausland/article231333715/Aussenpolitik-Der-wichtigste-Partner-Deutschlands-muesste-Polen-heissen.html#Comments