Es war Ende 2015, kurz nach Mitternacht. Mein Handy bimmelte. Jenny war dran:
– „Hi Boguś!“, so wird mein Vorname im polnischen verniedlicht. „Was machst Du gerade?“.
– „Nichts Besonderes“ antwortete ich, „Ich zocke The Witcher 3“. Was hätte ich denn sonst als Student um diese Uhrzeit machen sollen?
– „Hast Du was zu trinken? Wir sitzen hier mit Jessi und lernen für die PoWi-Prüfung“. Heißt übersetzt: Wir langweilen uns. „Kommste vorbei?“.
– „Gib mir 10 Minuten!“.
Ich klopfte an die Wand. Trotz Skype, Handys, WhatsApp und Messenger erwies sich das An-die-Wand-Klopfen am effizientesten, um meinen ukrainischen Nachbarn Bogdan (Bodzio) im Posener Studentenheim Polonez zu kontaktieren. Es sollte auch diesmal wunderbar funktionieren, denn im Nu vernahm ich ein leises, rücksichtsvolles Klopfen an meiner Tür.
Die Details waren schnell geklärt. Ich hatte noch etwas Whisky da, er einige Getränke zum Mischen. Eine ausgedehnte Suche ergab überdies eine leicht angebrochene Packung Salzstangen. Ausgestattet mit diesen Utensilien standen Bodzio und ich kurze Zeit später vor Jennys Zimmer. Zwei Etagen höher gelegen als die unseren Räumlichkeiten.
Als wir irgendwann gegen 3 Uhr am Morgen beschlossen sich doch noch aufs Ohr zu hauen, schlich ich direkt in mein Zimmer zurück. Ganz anders als mein Freund. Gentlemanlike wie er nun mal ist, begleitete er noch Jessi zum Nachtbus. Ich machte ein Foto davon. Und Jessi machte eins von mir. Ich am Fenster im Warmen. Bodzio und Jessi in der Nacht und Kälte.
Sie, liebe Leser*innen sollten wissen, dass mich zwei Dinge bei meinem Freund stets in Verlegenheit bringen: Seine ausgezeichneten Polnischkenntnisse und solche Aktionen wie diese.
2022
Es war gestern, lange nach Mitternacht. Mein Handy bimmelte. Jenny war dran:
– „Hi Boguś! Wir sind in Medyka angekommen. Ein kleines Dorf voller Polizeikontrollen“. Sie klang müde und erschöpft, strahlte aber hörbar. „Wieslaw hat uns gleich in Empfang genommen und hat uns alles gezeigt. Er hat sich wirklich gekümmert“. Ich kann hören wie Jenny lächelt. Sie hat kurz zuvor einen Hilfskonvoi von Greifswald nach Medyka an die in unserem Aufruf angegebene Adresse organisiert. „Wir haben alles an medizinischem Material in Wieslaws Halle gebracht, wo er und sein Kollege es professionell um 1:00 Uhr am Morgen gestapelt, mit Folie eingewickelt und mit Gabelstaplern untergebracht haben. Drei solche Paletten hat Bodzio jetzt!“. Jenny schickt mir ein entsprechendes Bild.
– „Was für ein toller Mensch diese Jenny“, denke ich mir.
– „Wieslaw und Kollege, so tolle Menschen!“ schreit Jenny ins Telefon.
– „So nah an der Grenze, so nah am Krieg (Grenze ist bei den Lichtern)”, beschreibt Jenny ein weiteres Bild, das sie mir schickt. „Die lieben Polen haben uns angeboten, oben in einem Sportraum mit anderen Freiwilligen zu übernachten (…) Auf dem Weg zu diesem kleinen Raum sind wir am großen Sportsaal vorbeigekommen, in dem jetzt gerade eng an eng Mütter mit ihren Kindern, ältere und junge Menschen liegen. Das Bild werde ich nie vergessen :/. Die Menschen in der Halle wissen nicht wohin. Mal sehen, wie viele wir morgen in unserem Konvoi mitnehmen können“.
Es ist niemand da um ein Foto davon zu machen. Weder ich im Warmen, noch Jenny oder Bodzio in der Nacht und Kälte.
Ich danke Dir Jen. Ich konnte seit Langem wieder ruhig schlafen.