Wir erleben bewegte Wochen in Polen. Ich bin im Oktober nach Poznań gezogen, um hier Europa-Studien zu studieren. Wahrscheinlich hätte es kaum eine spannendere Zeit geben können, um Polen auf’s Neue kennen zu lernen.
Vier Wochen nach der Aufnahme der Regierungsgeschäfte durch die PiS lohnt es sich daran zu erinnern, dass die Partei Jarosław Kaczyńskis völlig demokratisch die absolute Sejm-Mehrheit erlangen konnte. Das gleiche gilt für den Wechsel im Präsidentenamt im Mai: Andrzej Duda hat sich überraschend, aber absolut rechtmäßig gegen einen lethargisch wirkenden Amtsinhaber durchgesetzt.
Das ist deshalb wichtig, weil die alarmistischen Kommentare, die das Wort „Verfassungskrise” ins Feld führen, das Bild eines Staates erwecken, der im Chaos versinkt. Seien Sie versichert: Die Straßenbahnen fahren, die Regale in den Geschäften sind voll und der Vorweihnachtstrubel interessiert alle meine neuen Bekannten hier in Poznań mehr als die vermeintliche Staatskrise.
Lethargie und Hysterie gehen Hand in Hand
In meiner neuen alten Heimat hat mich allerdings in den letzten Wochen genau diese, an Apathie grenzende Gleichgültigkeit meiner Mitmenschen beunruhigt. Während die neue Regierung in höchst zweifelhafter Weise das Verfassungsgericht umkrempelte und der Präsident, seines Zeichens studierter Jurist, den zukünftigen Geheimdienstkoordinator vorauseilend begnadigte, passierte an den Fakultäten der polnischen Unis – nichts. Meine Mitbewohner, allesamt junge Studierende oder Hochschulabsolventen, winken ab, wenn ich sie nach ihrer Meinung zur politischen Lage frage. Und während die Dozenten die Terroranschläge von Paris sofort aufgriffen, wurde die aktuelle politische Situation im eigenen Land weder von Studierenden noch von Professoren angesprochen. Das alles in einem Klima, das jede Woche neue Nachrichten von fremdenfeindlichen Übergriffen hervorbringt. Vor Kurzem sorgte eine CBOS-Umfrage, die Polens Jugend einen Schwenk nach Rechts bescheinigte, für Aufsehen. Aus eigener Erfahrung kann ich nicht bestätigen, dass sich dieses auch in der breiten Masse in politischem Engagement niederschlagen würde.
Auf die politische Großwetterlage angesprochen, ähneln die Kommentare an meiner Fakultät den Stimmen auf der Straße: „Die vorher [gemeint ist die PO] haben sich doch auch nicht besser verhalten!“ – „Aber jetzt lacht die ganze Welt über uns!“ In beiden Aussagen liegt viel Wahrheit (Auch die Benennung von Verfassungsrichtern durch die PO „auf Vorrat“ wurde vom Verfassungsgericht verworfen). Und das macht es nicht immer einfach, die Lage zu kommentieren, ohne als Lehrmeister wahrgenommen zu werden.
Insbesondere deutsche Stimmen werden in Polen sehr genau gehört. Die Einlassung des EU-Parlamentspräsidenten, Martin Schulz, im DLF-Interview, die Geschehnisse in Polen erinnerten an einen „Staatsstreich“, war der Gazeta Wyborcza eine Push-Nachricht wert, die sonst den Breaking News vorbehalten ist. Wenn „Der Spiegel“ Szydło und Duda „Marionetten” nennt, wird das zur TVP-Meldung. Jarosław Kaczyński hält sich währenddessen nicht im Hintergrund: Die deutschen Behauptungen, die PiS baue eine Diktatur, glichen den sowjetischen Interventionen in der Tschechoslowakei und in Ungarn. Für viele Polen ist das eine absurde Instrumentalisierung der Geschichte, für andere ein ernsthaftes Argument. Vor dem Hintergrund der eigentlichen Probleme sind das allerdings ohnehin Stürme in Wassergläsern.
Kippt die Gleichgültigkeit?
In Anbetracht des stürmischen Tempos von Änderungen, welche die neue Regierung anging, war es wunderlich, dass es so ruhig blieb. Wenige Ausnahmen manifestierten sich in der atemlosen, immer dramatischer hyperventilierenden liberalen Presse wie der Tageszeitung Gazeta Wyborcza oder beim unter Beschuss geratenen Chefredakteur des Magazins NewsweekPolska, Tomasz Liś sowie bei den wenige Hundert Teilnehmende zählenden Demonstrationen, die in Warschau in den letzten Wochen vor dem Sejm oder dem Verfassungsgericht stattfanden.
Es deutet viel darauf hin, dass sich Bürgergesellschaft und Opposition erst konsolidieren mussten. Das frisch gegründete „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ – KOD, das binnen Tagen mehrere Zehntausend Likes in den sozialen Netzwerken erreichte, ließ nun am Wochenende erstmals aufhorchen. Die Zahlen schwanken, aber es dürften auch auf den Straßen mehrere Zehntausend Menschen ihre Abneigung gegenüber dem Umgang mit der Verfassung gezeigt haben.
Dabei ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass auch die Regierungsunterstützer am Sonntag um die 20.000 Menschen in Warschau auf die Straße brachten. Auch wenn die verbalen Ausfälle der Regierungsanhänger deutlich prominenter in der Berichterstattung auftauchen: Zimperlich sind weder Kritiker der Regierung noch deren Anhänger. Es sollte den PiS-Gegnern schliesslich nicht darum gehen, die Anhänger der Regierung zu marginalisieren, sollte sich die politische Mitte wieder von der PiS abwenden, wenn diese von ihren Ausfällen genug hat. Dann würde der gesellschaftliche Graben nur noch tiefer und schwerer zuzuschütten.
Die eigentliche Tragik der aktuellen Situation ist jedoch, dass zahlreiche Wählerinnen und Wähler mit redlichen Motiven für eine andere Sozialpolitik ihr Vertrauen politischen Kräften in die Hände gelegt haben, die sich ihnen nun als völlig verblendete Nationalisten darstellen. Entgegen aller Beteuerungen wollen sie zuvorderst mit ihren politischen Gegnern abrechnen. Das wird das Vertrauen der Mitte der Gesellschaft in „die Politik“ Polens ein weiteres Mal nachhaltig schädigen.