Moje Nalewki – Erinnerungen an das jüdische Warschau um 1900 (Teil 1)

Bernard Singer, Journalist und Publizist aus Warschau, schrieb im Londoner Exil ab 1956 seinen in der polnischen Erinnerungsliteratur hervorragenden Rückblick auf seine Jugend an der Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert. Singer (1893 – 1966) erlebte diese Zeit im jüdisch geprägten Stadtteil Muranów im Norden Warschaus. Zu dieser Zeit war Polen unter Russland, Preussen und Österreich aufgeteilt, wobei Warschau zum Russischen Zarenreich gehörte.

Singers Aufzeichnungen sind 1959 erstmals unter dem Titel „Moje Nalewki“ erschienen, auf Deutsch etwa „Meine Nalewkistraße“. Polen.pl veröffentlicht an dieser Stelle erstmals zunächst einen Teil einer deutschen Übersetzung der zusammengefassten Erinnerungen, die von unserem Autor Hauke Fehlberg übertragen wurde. In loser Reihenfolge sollen weitere Auszüge der Zusammenfassung folgen.

Die Nalewki – Hauptstraße des wirtschaftlichen jüdischen Lebens in Warschau

Von der Nalewki, einer der Hauptstraßen des wirtschaftlichen Lebens in Muranów, gibt es im heutigen Warschau nur noch ein kurzes Stück, an dem sich das Archäologische Museum befindet. Der Rest dieser vor dem Krieg eng bebauten Straße ist in „Straße der Helden des Ghettos“ (ul. Bohaterów Getta) umbenannt worden. Der größte Teil wurde aber in die Erweiterung der Krasiński-Gartenanlage einbezogen. Der kurze Straßenabschnitt, der heute „Nalewki“ heisst, war nie Teil der Nalewki, sondern Teil der Gęsiastrasse.

Die Nalewki Ecke Długastrasse 1906 und gut 100 Jahre später 2014
Die Nalewki Ecke Długastrasse 1906 und gut 100 Jahre später 2014 (Foto 2014: Polen.pl)

 

Das gegenwärtige Straßenraster im Stadtteil Muranów stimmt nur in den seltensten Fällen mit dem Raster der Vorkriegszeit überein. Wie auch in Berlin, muss man mit den Worten des Journalisten Heinz Knobloch warnen: „Misstraut den Grünanlagen!“.

Luftbild heutiges Muranów, überlagert mit Vorkriegs-Strassenraster (Bearbeitung: Polen.pl)
Luftbild heutiges Muranów, überlagert mit Vorkriegs-Strassenraster (Bearbeitung: Polen.pl)

Der Stadtteil Muranów wurde Teil des von den deutschen Besatzern eingerichteten Warschauer Ghettos und nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes 1943 wurde er systematisch Straßenzug um Straßenzug gesprengt. Die heutigen Siedlungen in diesem Stadtteil stehen zum größten Teil erhöht auf den Trümmern dieser zerstörten jüdischen Welt.

Singers Erinnerungen als Zeitreise ins jüdische Warschau der Jahrhundertwende

Dank Singers Erinnerungen erhalten wir heute vom jüdischen Warschau auch noch ein anderes Bild als das der Unterdrückung und der Ermordung seine Bewohner. Wir lernen alte Sitten und Beziehungen kennen, die für immer verschwunden sind, und wir lernen auch Menschen kennen, für die am Ende ihres Lebens die Gaskammern Treblinkas oder Auschwitz‘ standen. Uns werden Straßen und Häuser vorgestellt, von denen keine Spuren mehr geblieben sind.

Bernard Singer: Das unbekannte Warschau

„Das jüdische Viertel in Warschau umfasste ein Fünftel der Stadtfläche mit 250.000 Menschen, die ein Drittel der Einwohner ausmachten. Es gab weder Zugbrücken, noch Wachen an seinen Grenzen. Das Ghetto war schon seit langem aufgehoben, aber doch bestand eine unsichtbare Mauer, die den Stadtteil vom Rest der Stadt trennte. Viele polnische Kinder sprachen angstvoll vom jüdischen Viertel und ältere behandelten es häufig verächtlich. (…)

Wir hatten eine Pferdestraßenbahn. Sie kam aus der Sierakowskistraße und füllte sich mit jüdischem Publikum im Stadtteil Muranów. Von der Nalewkistraße an spielte sich beim Zustieg von Leuten, als auch um Plätze für Pakete, ein fieberhafter Kampf ab. Wenn es aufgrund des Widerstandes des Schaffners nicht gelang, von hinten einzudringen, versuchte man sein Glück beim Kutscher. Um die freie Durchfahrt am Platz Eisernes Tor (Żelazna Brama) zu erkämpfen, wurde mit verschiedenen Abschrankungen an der Przechodniastraße ein beliebiger Halt verhindert. Die Straßenbahn kam auf der Bagnostrasse am Pociejówmarkt kaum durch. Erst bei der Świętokrzyskastraße wurde es entspannter. Die jüdischen Passagiere stiegen aus.

Für mich war die dreiviertelstündige Reise durch das jüdische Stadtviertel immer voller Abenteuer. Niemals ging es ohne Zwist mit dem Schaffner oder dem Kutscher ab, nie ohne Kampf der Passagiere untereinander. Oft ertönten die Schreie der Bestohlenen und der Polizist griff ein. Beim Anblick des Kontrolleurs sprang die Leichte Kavallerie der Reisenden schnell von der Straßenbahn; denn fünf Kopeken für den Fahrschein war ein zu großer Betrag.

Der Warschauer Stadtteil Muranów, Vorkriegsstand
Der Warschauer Stadtteil Muranów, Vorkriegsstand

Diese kleine Welt erschien mir sehr groß. Ich bewunderte die Friedman-Passage an der Świętojerskistraße mit Ausgang auf die Wałowastraße. Es gab zwei Synagogen, eine Kapelle für Chassiden aus Góra Kalwaria, zwei Chederschulen, eine Bäckerei, Lebensmittelgeschäfte, einige Gaststätten und Cafés, ein Hotel und zwei Institutionen mit dem ulkigen Namen „möblierte Zimmer“. Einzig einen Spirituosenladen gab es nicht.

Auf der Nalewkistraße verkauften sich Spitze, Galanterie- und Strumpfwaren gut. Die Gęsiastraße handelte mit Moskauer und Lodschem Manufakturtuch. Auf der Franciszkańskastraße kaufte man Leder aus Radom. Die Grzybówstraße handelte mit Eisen. Neben Neufeld hob sich ein neuer reicher Eisenhändler Namens Prywes ab. Man sagte: „Das bedeutet so viel, wie der Nagel für Prywes“. Auf dem Pociejów-Markt handelte man mit Altem. Es kam vor, dass ein Eindringling Seife auf der Gęsia- statt auf der Franciszkańskistraße verkaufte. Es gab auch in unserem Stadtteil „goische“ [nicht-jüdische; Anmerk. d. Ü.] Oasen. Fraget verkaufte plattierte Gebrauchsgegenstände für Jungverheiratete; Skarżyński an der Nalewkistraße Seife, die das Dienstpersonal am Samstag einkaufen ging. Perłow handelte an dieser Straße ebenfalls mit Tee und Zucker. Man kaufte bei ihm Zucker, um eine Hundert-Rubel-Note zu wechseln.

Die Kaufleute wohnten meist nahe ihren Geschäften. Sie beteten nicht weit von zu Hause entfernt. Auf die Juden, Neuankömmlinge aus Litauen oder die aus Russland vertriebenen, schauten sie neidisch und verächtlich herab. Es schien ihnen, dass sie diese mit Findigkeit verdrängen würden; und in der Tat überragten die Litauer Juden das Polnische, die Findigkeit und die Kultur. Die Litauer sammelten sich an der Karmeliska-, Dzielna- und der Nowolipkastraße.

Alle fürchteten sich vor der Aushebung zum Militär, vor der Polizei, vor den Polen, dem eigenen drohenden Gott. Sie fürchteten sich sogar vor der Großen Synagoge am Tłomackiplatz. Sie stand auf einer Anhöhe und somit nicht de profundis („Aus der Tiefe rufe ich Dich, Herr“), sie hatte einen Chor, Orgeln, einen Kantor, einen kurzgeschorenen Prediger, der beim Anrufen des Herrn auf Polnisch lachte.

Der Ausgang eines Juden in traditioneller Kleidung außerhalb des Stadtteils war ein rechtes Unterfangen. Die polnischen Juden vertrauten den Handel mit russischen Kunden den Litauern an, welche gut russisch sprachen. Sie selbst fürchteten die Sprache der Polizei. (…)“

Fortsetzung folgt

Bernard Singer, 1893 Warschau – 1966 London; Journalist und Publizist. (Nicht zu verwechseln mit dem Nobelpreisträger Isaak Baschewis Singer.) Er stammte aus einer Kaufmannsfamilie und studierte (1914-1917) Polonistik an der Freien Universität Polens (Wolna Wszechnica Polska). Anfänglich war er Lehrer für Jüdische und Polnische Geschichte an polnisch-jüdischen Mittelschulen in Warschau und Lodz. Die journalistische Tätigkeit begann er mit der Zusammenarbeit mit dem Organ der Jüdischen Volkspartei (Fołkisci), dem „Łodzer Fołksbłat“. Während einiger Zeit war er Parteisekretär, bevor er sich den Zionisten anschloss.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebte er erneut in Warschau und widmete sich der Publizistik. Er erwarb den Ruf eines herausragenden politischen Kommentators und Berichterstatters aus dem Sejm. Er galt als bestens informierter Journalist und schrieb zweiwöchentlich politische Rundschauen, Reportagen und Feuilletons. In den Jahren 1920 – 21 war er Korrespondent an der Friedenskonferenz in Riga.

Nach Ausbruch des Krieges im September 1939 wurde er zusammen mit anderen Journalisten durch das Polnische Aussenministerium evakuiert. Zufällig wurde er 1940 in Riga durch den NKWD festgenommen und in ein Lager in Workuta eingewiesen. Als Ergebnis der Verständigung Stalins mit General Władysław Sikorski wurde er freigelassen und in der Polnischen Botschaft in Kubischew in der Presseabteilung beschäftigt. Im Jahr 1942 begab er sich zusammen mit der Armee von General Anders in den Iran und nach bald danach ging er nach London, wo er Mitarbeiter des Informations- und Dokumentationsministeriums wurde. Ab 1946 war er Redakteur der Zeitschrift „The Polish Weekly“, die von der Polnischen Botschaft herausgegeben wurde. 1950 nahm er als politischer und ökonomischer Kommentator die Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung „The Economist“ auf. Nach dem Krieg besuchte er Polen mehrfach.

Singer wird als herausragende Persönlichkeit der polnischen Presse der Zwischenkriegszeit anerkannt. Im Jahr 1962 erschien eine Auswahl seiner Vorkriegs-Feuilletons Od Witosa do Sławka (Paris, Biblioteka Kultury 1962; Warschau 1990). Seine Erinnerungen Moje Nalewki (Warschau 1959, 1993) wurden mehrfach aufgelegt.

Quelle: Polnisches Wörterbuch der Judaistik (Polski Słownik Judaisticzny) des Jüdischen Historischen Instituts (Żydowski Instytut Historyczny)