Schlechte Straßen und schlechtes Essen, Misswirtschaft und Korruption fallen dem durchschnittlichen Westeuropäer zuerst ein, wenn er an “den Osten” Europas denkt. Klaus Brill, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Warschau, zuvor in Prag, hält gleich im ersten Kapitel seines Buches “Im Osten geht die Sonne auf” dagegen: Polen ist das neue Italien! Und prognostiziert, dass Mitteleuropa, wie er Polen, Tschechien und die Slowakei konsequent nennt, in Zukunft als aufregendes, charmantes und schickes Reiseziel wahrgenommen werden wird.
Das Buch stellt nicht die einzelnen Länder nacheinander vor, sondern ist thematisch strukturiert, in Kapitel über Wirtschaft, Politik und Kultur, außerdem gibt es ein eigenes Kapitel, in dem der Autor die bedrückende Situation der Roma schildert.
Wie deutsche Geschichte in der Region Mitteleuropa darstellen? Der Autor entscheidet sich für die Zweiteilung in “Deutsche Kriegsverbrechen” und “Deutsches Kulturerbe”. Das Kapitel über die Kriegsverbrechen beginnt er mit einer ausführlichen und eindrücklichen Beschreibung über die Feierlichkeiten zum Jahrestag des Warschauer Aufstands am 1. August jedes Jahres. Wer weiter liest, erfährt auch alles über die Hintergründe und Folgen, über die Sowjets, die der Niederschlagung des Aufstands tatenlos zusahen, über die nahezu vollständige Zerstörung der Stadt und die Gleichgültigkeit und Unwissenheit der meisten Deutschen über dieses Ereignis, was von vielen Polen als Arroganz wahrgenommen wird.
Deutsche waren in Mitteleuropa auch freundliche Nachbarn und trugen zur Entstehung einer reichhaltigen Kultur bei. Dieser Teil der Geschichte wird überlagert von den Untaten der NS-Zeit und das ist sicherlich auch der Grund dafür, warum Klaus Brill das Thema “Deutsches Kulturerbe” an die letzte Stelle seines Buches gesetzt hat. Karl Schlögel zitierend stellt er sich die Frage, wie man heute unbefangen vom “deutschen Osten” sprechen kann, ohne zu verklären oder gar revisionistisch zu werden. Die Frage bleibt unbeantwortet, aber Brill stellt anschaulich dar, welche Schätze deutscher Kultur es für Touristen in der Region zu entdecken gibt.
Insgesamt hat der Autor sich viel vorgenommen: Er steht vor dem Dilemma, vor dem alle stehen, die ihren weitgehend ahnungslosen Landsleuten Polen oder andere östlich Deutschlands gelegene Länder erklären wollen: Konzentriert man sich auf die Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts und nimmt in Kauf, die Region ausschließlich als Opfer deutscher und sowjetischer Aggression darzustellen oder streift man diesen Aspekt nur am Rande und stellt die aktuelle dynamische Entwicklung sowie gesellschaftliche und kulturelle Aufbrüche in den Mittelpunkt? Eine Fokussierung auf den Opferstatus würde das Desinteresse an der Region nur verstärken, schreibt Brill in der Einleitung. Deshalb versucht er einen Rundumschlag, indem er versucht, beiden Zielen gerecht zu werden: dem durchschnittlichem Westeuropäer nahezubringen, dass Mitteleuropa sexy ist (Polen ist wie Italien!) und gleichzeitig ausführlich auf das diesseits von Oder und Neiße weitgehend unbekannte Erbe zweier totalitärer Systeme hinzuweisen. Das Ergebnis dieses ehrgeizigen Unterfangens liest sich überraschend flüssig, wenn auch die Themenwechsel manchmal etwas abrupt sind. An manchen Stellen mag bezweifelt werden, ob der Leser ohne Vorkenntnisse dem plötzlichen Springen zwischen Themen und Ländern problemlos folgen kann.
“Im Osten geht die Sonne auf – Eine Entdeckungsreise durch das neue Mitteleuropa” erschien 2014 in der Süddeutsche Zeitung Edition, 221 Seiten, 14,90 Euro.