Das moderne Polen hat am elften November seinen 104. Geburtstag gefeiert. Zum ersten Mal nicht allein.
Nationalismus ist des Patriotismus Gegenteil
Es steht außer Frage, dass die Art und Weise, wie man der Wiederherstellung des polnischen Staates im Jahre 1918 gedenkt, schöner und in jeder Hinsicht offener sein könnte. Nein – sollte! Jedes Jahr aufs Neue, wenn die Horden von vermummten Gestalten, mit Keltischen Kreuzen und neofaschistischen Parolen behängt (https://oko.press/blaszczak-w-marszu-niepodleglosci-ida-zwykli-polacy-to-prawda-i-nasiakaja-haslami-neofaszystow/), durch die Straßen jener Stadt ziehen, die vom Faschismus nahezu ausgelöscht wurde, drängt sich ein penetranter Gedanke in meinen Kopf. In einem Land mit solcher geopolitischen Lage wie Polen ist Nationalismus doch das genaue Gegenteil vom Patriotismus! Isolation, Chauvinismus und “Polen first” – Mentalität bedeuten über kurz oder lang den Untergang. Ein Land ist nur so stark, wie seine Einbettung in das internationale Gefüge. Das liegt vor allem jetzt auf der Hand.
Danke, Polen!
Dass dem so ist, erfährt gerade Polens östlicher Nachbar – die Ukraine. Seit dem 24.02.2022 leistet sie einen heldenhaften Widerstand gegen das putinistische Russland. Der Krieg, der ursprünglich für drei Tage ausgelegt war, geht nun in den neunten Monat. Die Mauern der Ukrainer brechen. Ihre Herzen kein bisschen. Und an diesem Tag, am 11.11., waren viele von ihnen bei den Polen. Davon zeugen diverse, bewegende Dankesvideos, denen man ansieht, dass sie allesamt, Sie ahnen es, von Herzen kommen.
Liebe
Dieses Video zum Beispiel (https://youtu.be/wJgpWb6ZUds). Eine Frau, die mit ihren Kindern ihr Heim verlässt. Von Warnsirenen begleitet wirft sie einen letzten Blick auf ihren Mann. Er bleibt da um dafür zu sorgen, dass es noch ein Heim gibt, wenn sie wiederkommt. Beide ahnen nicht, dass es ein Abschied für immer sein wird. Die Nachricht vom Tod ihres Mannes ereilt die Protagonistin in Warschau. Ihre Kinder verstehen noch nicht, dass sie ihren Vater nie wieder sehen werden. Die polnische Gastgeberin schon. Man trauert gemeinsam und spendet einander Kraft und Zuversicht. Geteiltes Leid ist halbes Leid. “Ich bin die Ukraine, du bist Polen” spricht die Ukrainerin zu der Polin.
Am 11.11. feierten beide gemeinsam.
Beistand
Nun zum anderen Video. Nämlich zu diesem, wo Präsident Selenskyj aus bekanntem Anlass auf Polnisch von Dankbarkeit, Freundschaft und Liebe spricht (https://twitter.com/MariuszCielma/status/1590977231131901952?s=20&t=W0k9T4sDuBODQnZdMw3TUw). Und davon, dass Polen – allen Widrigkeiten der Vergangenheit zum Trotz – Ukraines Schwester sei, die ihr nicht von der Seite weicht. Nicht einmal jetzt, wo Beistand keine Lippenbekenntnisse und Schulterklopfen erfordert, sondern reale Entbehrungen und Verzicht nach sich zieht. Viele Menschen in Polen und der Ukraine haben derzeit das Gefühl, dass man einem historischen Momentum beiwohnt. Hier und jetzt entstehen Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, die das Rad der Geschichte neujustieren werden.
Verpasste Gelegenheit
Wie schade, dass viele, viel zu viele Deutsche kein Gespür dafür haben. Und auch kein Verständnis. Ihr Blick ist durch die Inflation, jahrzehntelange russische Einflussnahme (https://www.spiegel.de/politik/russlands-agenten-wie-putins-spione-mitten-unter-uns-leben-podcast-a-7ee57f46-ae81-4d11-b048-f458b654d26c) und die traditionelle Besserwisserei längst verstellt. Aber verstehen Sie mich nicht miss. Ich sehe es durchaus ein. Das Hemd ist auch mir häufig näher als der Rock. Dennoch kann ich bei bestem Willen nicht nachvollziehen, wie Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Hakenkreuze an deren Wänden (https://www.n-tv.de/der_tag/Wieder-Brandanschlag-auf-Fluechtlingsunterkunft-article16565246.html) die Probleme des Alltags lösen können. Von dem verpassten Momentum in der Geschichte Mittelosteuropas will ich erst gar nicht anfangen.
Man sagt, man soll die Menschen abholen, wo sie stehen.
Wo stehen Sie? Und wo möchten Sie hin?