Hier bei Polen.pl haben wir das Thema der Krise im polnischen Parlament schon in drei anderen Beiträgen behandelt. Das ist aus zwei Gründen Absicht: Wir möchten aus verschiedenen Perspektiven auf die aktuell sehr wichtigen politischen Entwicklungen in Polen schauen und zeigen, dass man mit verschiedenen Blickwinkeln auch zu verschiedenen Ergebnissen einer Beurteilung kommen kann. Deswegen muss keine davon falsch sein; bei einer eigenen Beurteilung sollten aber alle Sichtweisen bedacht werden. So schrieb Christian über die Argumentation und das fragwürdige Auftreten der Opposition, Jens betrachtete ausschließlich das Thema der Einschränkung der journalistischen Arbeit im Sejm, Antoni stellte den Gesamtverlauf dar und befasste sich mit dem oft in Medien dargestellten Zusammenhang mit den Problemen um die Verfassungsrichter. Jochen kommentiert nun die generelle Perspektive, ob die Opposition “ein Recht auf Widerstand” hätte.
(Berlin, JE) Man stelle sich vor, Die Linke und die Grünen würden den Plenarsaal des Deutschen Bundestages besetzen, weil sie in einem Gesetzesvorhaben der großen Koalition einen klaren Verstoß gegen das Grundgesetz sehen. Und sie würden diese Form des Protests über Wochen aufrechterhalten und möglicherweise weitere Sitzungen des Bundestages im Plenarsaal verhindern. Wie würde dies wohl die deutsche Öffentlichkeit bewerten? Vermutlich wäre der Aufschrei groß und eine deutliche Mehrheit würde fordern, die Opposition möge sich wieder beruhigen und das Parlament seine Arbeit machen lassen.
In Polen besetzten Politiker von zwei Oppositionsparteien, PO und Nowoczesna, etwa drei Wochen lang den Plenarsaal des polnischen Parlamentsgebäudes, genannt Sejm. Auch deutschsprachige Medien berichteten darüber ausführlich. Und was sagten die Polen dazu? In zwei Umfragen vom Jahresbeginn, die polnische Medien zitieren, sprachen sich ca. 40 Prozent für den Protest und etwa genau so viele dagegen aus. Trotzdem, die relativ hohe Zustimmung für den Protestakt ist bemerkenswert. Dass die Befürworter des Protests die Blockade des Plenums – sozusagen ein Akt zivilen Ungehorsams im Parlament oder in den Worten Jaroslaw Kaczyńskis „parlamentarischer Hooliganismus“ – als angemessene Methode betrachten, zeigt vor allem, wie sehr sie die Politik der Regierung ablehnen.
Doch bevor wir uns selber an einer Beurteilung versuchen wollen, ist es notwendig, die Abläufe zu rekapitulieren – hierbei haben wir uns auf Artikel verschiedener polnischer Zeitungen gestützt. Wie in den anderen Artikeln bei uns bereits diskutiert, richtete sich der Protest der Opposition am 16. Dezember letzten Jahres zunächst gegen die Pläne der PiS-Partei, die Rechte von Journalisten im Sejm einzuschränken. Der Auslöser für die Protestblockade war schließlich ein Vorfall während der Debatte über den Haushalt für 2017, der an dem Tag verabschiedet werden sollte.
Im Schnelldurchgang: Der Abgeordnete Szczerba (PO) zeigte ein Blatt mit der Aufschrift „Freie Medien im Sejm“ als er an das Rednerpult trat, was den Sejm-Vorsitzenden Kuchciński (PiS) dazu veranlasste, den Abgeordneten vom weiteren Abstimmungsverfahren auszuschließen. Ein Schritt, der im Nachhinein von vielen Kommentatoren, unter anderem ehemaligen Sejm-Vorsitzenden, als unverhältnismäßig bzw. gar unrechtmäßig bewertet wurde. Als daraufhin verschiedene Oppositionspolitiker das Rednerpult blockierten, wurde die Haushaltsdebatte zunächst unterbrochen und einige Zeit später in einen anderen Saal des Parlamentsgebäudes verlegt.
Dort waren laut polnischen Medien wohl auch einige Oppositionspolitiker anwesend, die jedoch an der Abstimmung nicht teilnahmen. Der Haushalt wurde letztlich nach Angaben des Sejm-Vorsitzenden mit 234 zu 2 Stimmen angenommen, womit das notwendige Quorum von 231 Abgeordneten erfüllt gewesen sei. Die protestierende Opposition erkannte die Rechtmäßigkeit der Abstimmung jedoch nicht an und führte dazu neben dem Ausschluss des Abgeordneten Szczerba auch mehrere formale Gründe an. Sie verlangte zunächst eine Neuansetzung der Haushaltsdebatte noch vor Weihnachten – ohne Erfolg. Danach machte sie die Wiederholung der Abstimmung zur Voraussetzung für eine Beendigung des Protests.
Die Frage, ob die Abstimmung im Nebenraum rechtmäßig war, wird seitdem in den polnischen Medien heiß diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob das nötige Quorum erfüllt war und die Oppositionsabgeordneten tatsächlich die Möglichkeit hatten, sich an der Abstimmung zu beteiligen. Die Tageszeitung Gazeta Wyborcza, mit der PiS-Regierung auf Kriegsfuß, kommentierte trocken: „In einem Rechtsstaat würde diese Frage das Verfassungsgericht bewerten. Aber Polen ist kein Rechtsstaat mehr“. Vergleichbare Einschätzungen findet man auch in den Kommentarspalten der Medien in Polen, auch bei der Diskussion bei Polen.pl auf Facebook. Die Möglichkeit, das Verfassungsgericht einzuschalten, hat Präsident Duda, wenn er verfassungsrechtliche Zweifel an einem Gesetz hat, das er schließlich unterschreiben muss.
Während die PiS in den Tagen nach dem Eklat die Opposition verbal unter Beschuss nahm, ihr unter anderem vorwarf, sich einem strafrechtlichen Vergehen schuldig zu machen, verstetigte die Opposition den Protest (der von Anfang an auch auf der Straße, vor dem Sejm, angeführt durch die regierungskritische KOD-Bewegung, stattfand). Wobei man natürlich erwähnen muss, dass sich nicht alle Oppositionsparteien daran beteiligten: Die Kukiz’15-Bewegung, die der PiS sicherlich näher ist als den anderen Parteien, distanzierte sich von Beginn an. Relativ schnell zog sich auch die PSL, ehemaliger Koalitionspartner der PO, von den Protesten zurück. Am 20. Dezember verließen die PSL-Abgeordneten den Sejm. Ihr Vorsitzender appellierte an beide Seiten, sich zu beruhigen und die Stimmung im Land – kurz vor Weihnachten – nicht weiter anzuheizen.
PO und Nowoczesna verkündeten zunächst zumindest bis zum 11. Januar im Sejm auszuharren, dem Tag an dem die erste Sitzung des Parlaments im Jahr 2017 vorgesehen war. Doch wirklich einig schienen sie sich nicht zu sein. Während der ersten Januarwoche überraschte der Vorsitzende der Nowoczesna-Partei Petru mit einem Kompromissvorschlag an die PiS-Seite, der offenbar nicht mit der PO abgestimmt war. Gleichzeitig wurden diskreditierende Informationen über den Anführer der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung KOD bekannt – hatte er sich in seiner Rolle selbst bereichert? Massenproteste zur Unterstützung der Opposition im Sejm blieben im jeden Fall aus.
Am 12. Januar beendeten die letzten verbliebenen PO-Parlamentarier schließlich ihren Protest im Sejm (Die Nowoczesna-Abgeordneten waren bereits einen Tag früher nach Hause gegangen). Offizielle Begründung: Die Regierung hätte ihre Vorschläge zur Beschränkung der Berichterstattung aus dem Sejm zurückgenommen. Die Regierung hat jedoch in der Frage der Abstimmung über das Budget nicht eingelenkt und betrachtet dieses weiterhin als regelkonform beschlossen. Nachdem die Mehrheit des Senats dies offenbar genauso sah und das Gesetz ohne Änderungen an den Präsidenten weiterreichte, dauerte es gerade einen Tag, bis dieser es unterschrieb. Verfassungsrechtliche Bedenken seien vollständig ausgeräumt worden, verkündete sein Sprecher. Führende PiS-Politiker kündigen inzwischen harte Strafen für die an dem Protest beteiligten Abgeordneten an, von bis zu 10 Jahren Haft ist die Rede. Vielleicht nur rhetorische Retourkutschen, doch vorerst ist Kaczyńskis Position weiter gestärkt und das macht nicht wenigen Leuten Angst.
Berechtigte Kritik oder nervöse Opposition?
Zunächst vorweg: Ein Staatsstreich oder Putsch, wie er von einigen aus dem Regierungslager genannt wurde, ist der Protest sicherlich nicht. Die Oppositionsabgeordneten verlangten, dass die Abstimmung zum Staatshaushalt wiederholt wird, ihr Protest zielte aber nicht darauf ab, die Regierung zu stürzen. Das Ziel, die in den Augen der Opposition unrechtmäßige Verabschiedung des Budgets zu kippen, wurde letztlich nicht erreicht. Effektiv war der Protest jedoch insofern, dass die Regierung ihre Pläne zur Regulierung der Berichterstattung im Sejm zurücknahm. Darüber hinaus verdeutlichten die vergangenen vier Wochen, wie schwer sich die Opposition tut, gemeinsam gegen die Regierung zu arbeiten. Ganz abgesehen davon, dass das linke politische Spektrum weder im Parlament noch bei der KOD-Bewegung vertreten ist.
Gleichzeitig muss der Protest im Kontext der aktuellen politischen Entwicklungen in Polen betrachtet werden. Zwar war es wenig überzeugend, der Regierung ihrerseits einen „Staatsstreich“ vorzuwerfen – die Abstimmung über das Budget ohne die protestierende Opposition durchzuführen, schien eher eine spontane Trotzreaktion eines überforderten Sejm-Vorsitzenden und sturköpfigen Parteivorsitzenden auf die an dem Tag „auf Krawall gebürstete“ Opposition gewesen zu sein. Und dennoch ist der Ausschluss eines Oppositionsabgeordneten in einer so entscheidenden Frage wie der des Staatshaushalts keine Lappalie.
Die Sorge wächst, dass es keine wirkungsvolle Kontrolle über die Regierung mehr gibt – Verfassungsgericht und staatliche Medien wurden so „reformiert“, dass sie der Regierung weniger in die Parade fahren. Insofern ist die Frage, ob ein Abgeordneter von einer Abstimmung im Parlament ausgeschlossen wird bzw. ob eine Abstimmung im Parlament korrekt durchgeführt wurde, nicht nur rein technisch, sondern auch symbolisch. Es geht darum, ob das Parlament als Institution respektiert wird und seine Kontrollfunktion ausüben kann. Die Blockade des Sejms mag als übertrieben angesehen werden, erfolgreich war sie eher nicht und doch sendet sie ein wichtiges Signal. Das heißt: Wir lassen uns nicht alles gefallen! Viele polnische Kommentatoren haben sie daher zurecht verteidigt als ungewöhnliche Methode in politisch turbulenten Zeiten für Polen.