Spätestens seit 2015 ist die belarussische Schriftstellerin und Journalistin Swetlana Alexijewitsch weltweit bekannt. Da gewann sie nämlich den Literaturnobelpreis, die höchste literarische Auszeichnung. Bereits zuvor hatte sie diverse Preise gewonnen, unter anderem 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der internationale Durchbruch gelang Alexijewitsch 1997 mit „Stimmen aus Tschernobyl. Chronik der Zukunft“. Die deutsche Erstausgabe war 2001 erhältlich. Ihr Genre ist der „Roman in Stimmen“, wie Alexijewitsch es selbst nennt: In ihren Werken stellt sie Interviews mit Zeitzeugen zu peotischen Collagen zusammen. Alexijewitsch lässt den Menschen Raum zu sprechen, gibt denen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden oder vielmehr nicht gehört werden sollen. So auch in „Stimmen aus Tschernobyl. Chronik der Zukunft“:
Unvergesslich die Stelle, wo die Ingenieure und Mitarbeiter des Werkes auf den Balkons ihrer Wohnungen in Pripjat stehen und den Himmel mit seinen unglaublichsten Farben, die die Katastrophe gemalt hatte, bewunderten, einen metallenen Geschmack auf der Zunge, bevor sie den Ort für immer verlassen mussten.
Dieser Roman wird nun von Elżbieta Bednarska als Theaterstück inszeniert. Elżbieta Bednarska ist freiberufliche Regisseurin und Schauspieldozentin, daneben leitet sie Theaterworkshops und Inszenierungen mit Jugendlichen. Bis 2008 hatte sie eine Professur an der Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft inne. Elżbieta Bednarska lebt und arbeitet in Berlin und Wrocław. Bisher inszenierte sie unter anderem „Inanna in den Katakomben“ von Olga Tokarczuk, „Schneeweiß und Russenrot“ von Dorota Masłowska, und „Land ohne Worte“ von Dea Loher. Polen.pl konnte noch vor der Premiere in Berlin mit der Regisseurin über ihre neueste Inszenierung sprechen.
Frau Bednarska, worum geht es in dem Stück „Stimmen aus Tschernobyl. Chronik der Zukunft“?
Ich wurde für das Stück von Swetlana Alexijewitschs Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ inspiriert. Das Buch ist ein dokumentarisch-apokalyptisches Werk, das die von Tschernobyl betroffenen menschlichen Schicksale und gesellschaftlichen Umbrüche charakterisiert. Meine Inszenierung setzt sich in archetypischen Bildern theatralisch-musikalisch mit dem „Geheimnis“ Tschernobyl auseinander. So nennt es Alexijewitsch: „Tschernobyl ist ein Mysterium, das wir erst entschlüsseln müssen. Ein noch ungedeutetes Zeichen. Vielleicht das Rätsel für das einundzwanzigste Jahrhundert.“ Dieses Rätsel mit Musik, Sprache, Bewegung, Video und Licht zu ergreifen, in Dialog miteinander zu bringen und daraus etwas Eigenständiges entstehen zu lassen, ein neues Geschöpf, das ist unsere Idee. Wir geben keine Antwort auf das Rätsel, möchten vielmehr Fragen wecken. Eine Art Weckruf. Die Inszenierung will Anstoß sein für Gespräche, ein Störfaktor, Irritation, etwas Unbequemes, eine andere Art der Betrachtung provozieren.
Warum haben Sie sich nun dem Werk einer belarussischen Schriftstellerin zugewandt, nachdem Sie sich bisher auf die Inszenierung polnischer Literatur konzentriert hatten?
In den letzten Jahren habe ich mich neben der Inszenierung von polnischer Literatur ebenso intensiv der Inszenierung von deutscher Literatur zugewandt, so z.B. Goethes „Faust“ und Dea Lohers „Manhattan Medea“ und „Land ohne Worte“. Für die Wahl von Alexijewitschs „Tschernobyl“ war in erster Linie das Thema ausschlaggebend. Das Reaktorunglück hat eine ungeheuer große Dimension und ist, obwohl vor 30 Jahren geschehen, noch immer aktuell und wirksam. Der Umgang der Menschheit mit der Atomenergie ist Teil unseres Schicksals geworden. Alexijewitschs hat viele Jahre an „Tschernobyl“ gearbeitet. Entstanden ist ein Werk von eindringlicher Kraft und ethischer Bedeutung.
In der Ankündigung über das Theaterstück ist davon die Rede, dass Erkenntnisse aus der kritischen wissenschaftlichen Forschung zu Tschernobyl in die Inszenierung einbezogen werden. Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Ethik ohne Wissenschaft ist bei einem Thema wie Tschernobyl, also einer Katastrophe der Hochrisikotechnologie, nicht möglich. Es geht mir nicht um ein naives Für und Wider Atomkraft, sondern um eine bewusste Auseinandersetzung mit diesem Rätsel. Viele mit Tschernobyl zusammenhängende Fakten und Zusammenhänge haben wir alle schon einmal irgendwann und irgendwo gehört, aber vieles davon ist in Vergessenheit geraten. Das ist eine Erfahrung, die ich in der Beschäftigung mit dem Thema selbst gemacht, aber auch in Gesprächen mit anderen Menschen erlebt habe. Hinzu kommt – und das ist besonders bemerkenswert –, dass wichtige Erkenntnisse zu Tschernobyl aufgrund von Interessen der Atomwirtschaft und -politik verharmlost und der Öffentlichkeit nicht ausreichend bekannt gemacht werden. Das ist ja Teil des „Geheimnisses“ Tschernobyl. Ich und mein Team sind daran interessiert, kritische Erkenntnisse zu Tschernobyl aufzugreifen und in die Inszenierung zu integrieren. Dazu arbeiten wir mit dem Physiker Sebastian Pflugbeil zusammen, der uns bei den Proben mit den Forschungsergebnissen zu Tschernobyl und seinen Folgen aufklärte. Er wird selbst, als einer der wenigen Menschen, die den havarierten Reaktor 4 in Tschernobyl von innen erkundet haben, aktiv in der Inszenierung mitwirken und seine wissenschaftliche Sicht vorbringen.
Die Inszenierung soll einen Beitrag zu Hans Jonas‘ Forderung nach einer „Heuristik der Furcht“ leisten. Was ist damit gemeint?
Schon sieben Jahre vor dem Reaktorunglück hatte der Philosoph Hans Jonas angesichts der Herausforderungen der technologischen Zivilisation das „Prinzip Verantwortung“ beschrieben: In unser heutiges Handeln sollten wir die zukünftige Entwicklungsmöglichkeit des Menschen mit einschließen. Die Technik ist zu einer Art zweiten, künstlichen Natur unserer Zivilisation geworden. Ihre Wirkungen werden wie paradiesische Segnungen verheißen, wie die Lösung aller Energieprobleme durch Atomenergie, aber sie haben eben auch ihre Schattenseiten. Die Wirkung der Radioaktivität ist eine so langfristige, dass sie die Zukunft des menschlichen Lebens bedroht. Ihre Auswirkungen sind uns unbekannt, z.B. was die genetischen Schäden für zukünftige Generationen betrifft. Sich diesem Bedrohlichen, diesem zu Fürchtenden mit „Hellsicht der Einbildungskraft und Empfindlichkeit des Gefühls“ (Jonas) – also auch durch Bilder, Metaphern, Gleichnisse – durch die Kunst bewusst und ohne Furcht um sich selbst zu stellen, das ist mit dieser Forderung unter anderem gemeint.
Wieso haben Sie für die Aufführung des Stücks ein ehemaliges Frauengefängnis gewählt?
Ich arbeite gerne in Räumen, die eine innere Verwandtschaft mit dem Stoff der Inszenierung haben oder auch in Widerspruch dazu stehen. Für „Tschernobyl“ eignet sich ein Gefängnis hervorragend: Es ist Symbol für eine Wissenschaft und Gesellschaft, die die Wahrheit über Tschernobyl bis heute gefangen halten. Vorplatz, Lichthof, Gänge, Zellen und Kapelle des Gefängnisses werden durch die Inszenierung bespielt. Durch die raumspezifische künstlerische Arbeit im ehemaligen Gefängnis betonen die Stimmen aus Tschernobyl die Entschleierung des „friedlichen“ Atoms und seine Entfesselung als atomares Höllenfeuer.
Was ist das Besondere an Ihrem aktuellen Theaterstück? Inwiefern unterscheidet es sich von Ihren früheren?
Der Schwerpunkt meiner bisherigen Arbeit war die Inszenierung von belletristischer Literatur. Mit Alexijewitschs „Tschernobyl“ tritt der starke Bezug zu konkreten, realen Schicksalen und Ereignissen der Gegenwart in den Vordergrund. Das ist unmittelbar im Ensemble erlebbar und durch Sebastian Pflugbeil, der selbst viele Male in Tschernobyl und Fukushima war, menschlich anwesend.
Wird es auch Aufführungen in anderen Städten geben?
Geplant ist eine zweite Projektphase mit künstlerischen Werkstätten in Polen. Der aktive Teilnehmerkreis wird erweitert um Jugendliche und Studenten. Die Künstler werden zusammen mit ihnen ihre Blickwinkel, Bilder, Gedanken zum Thema Tschernobyl erkunden und nach einer Ausdrucksform suchen. Wir möchten viele Blickrichtungen einholen und den Stimmen aus Tschernobyl Raum geben. Durch den künstlerischen Zugang können wir auch unabhängig von Sprachen, Bildung oder Alter kommunizieren. Wir sehen das als Impuls zum Dialog, der nicht intellektuell ist, wo jeder Gedanke Platz hat und bereichernd ist. Die Künstler initiieren die Auseinandersetzung. Was entsteht, ist offen, abhängig von dem Prozess und von der Gruppenzusammensetzung. Auch die Rolle der Zuschauer ist hier aktiv gedacht. So erhoffen wir uns weit gefasste Dialoge mit vielen verschiedenen Menschen, die wie umfallende Dominosteine weiter gehen. Weitere Aufführungen sind in Salzburg und Wrocław geplant.
Vielen Dank für die Einblicke, Frau Bednarska.
Die Premiere fand am Freitag, 13. Januar 2017 , statt. Weitere Informationen hier.