Als Kulturanthropologin beschäftige ich mich mit Praktiken, Symbolen und Materialität. Es geht um die scheinbar einfache Frage nach dem alltäglichen Leben: Wie gestalten wir unseren Alltag und warum ausgerechnet so, wie wir es tun? Dazu gehören auch die Medien, die für jeden von uns eine wichtige Rolle im täglichen Leben spielen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war nach langer Zeit der Zensur nicht nur in Polen eine freie Berichterstattung möglich, sondern es etablierte sich auch in Deutschland der vorsichtige Blick auf unsere östlichen Nachbarn. In meinem Beitrag möchte ich mich mit der Wahrnehmung der politischen Situation Polens in deutschen Medien beschäftigen, die insbesondere nach den Parlamentswahlen 2015 zunahm.
Politischer Kurswechsel in Polen
Polen begegnete jedem, der von Zeit zu Zeit Medien konsumiert, – unabhängig davon, ob es sich um Zeitung, Fernsehen oder Internet handelt – seit dem letzten Herbst in Deutschland mit einer ungewohnt starken medialen Präsenz. Dies lag an den Ergebnissen der Parlamentswahlen am 25. Oktober 2015, die in ganz Europa für Überraschung gesorgt hatten. Zunächst möchte ich aber den Blick noch etwas weiter in die Vergangenheit richten. Den Parlamentswahlen gingen zunächst die Präsidentenwahlen am 10. Mai 2015 voraus.
Ich lebte zu diesem Zeitpunkt in Opole/Oppeln und bekam den Wahlkampf und die mediale Berichterstattung auf polnischer Seite im Vorfeld mit. Ich sprach mit meinen Arbeitskollegen über die bevorstehenden Wahlen und sie erzählten mir, dass ein erneuter Sieg Bronsiław Komorowskis, dem damals amtierenden Präsidenten, sicher sei.
Am 10. Mai gewann allerdings Andrzej Duda die Wahl, Mitglied der Partei Prawo i Sprawiedliwość. Übersetzt bedeutet dies ΄Recht und Gerechtigkeit΄ und die polnische Abkürzung ΄PiS΄ ist auch in Deutschland geläufig. Dahinter verbirgt sich eine nationalkonservative Partei unter dem Vorsitz von Jarosław Kaczyński.
Drei Wochen nach den Wahlen war ich bei einer Freundin in Warschau zu Gast und wir diskutierten über die Wahlergebnisse. Ich fragte sie nach ihrer Meinung, auch wenn ich diese schon erahnte: Sie hatte die PiS gewählt – meine Freundin, die ein Auslandssemester in Deutschland verbracht, einen binationalen Master in Polen und Deutschland studiert und im Rahmen eines mehrmonatigen Praktikums im deutschen Bundestag gearbeitet hatte. Damit entspricht sie nicht gerade dem Bild des typischen Wählers dieser Partei, der in deutschen Medien gerne als nationalistisch und anti-europäisch dargestellt wird.
Die Produktion medialer Bilder
Welches Bild wird uns von Polen und Ungarn seit dem Sieg nationalkonservativer Regierungen in den deutschen Medien vermittelt? Wenn ich in mein persönliches Umfeld blicke, dann wissen viele nicht viel über Polen und Ungarn. Dies ist eine Tatsache, die mir durch alle Gesellschaftsschichten hindurch begegnet und nicht an einzelnen Personen festzumachen ist. Die meisten wissen, dass es in Deutschland polnische Saisonarbeiter und eine Unmenge an stereotypen Polenwitzen gibt. Auch die Frage nach der Existenz von Supermärkten und heißem Wasser in Polen begegnete mir tatsächlich, wenn auch von einer älteren Generation. Denken wir an Ungarn, fallen den meisten Paprika, Gulasch und Balaton ein – es sind meist die Urlaubserinnerungen, die präsent sind. Kurzum: Polen und Ungarn stehen meist nicht im Fokus unseres Blickfeldes. Und genau hier fängt es an, problematisch zu werden, wenn Medien verstärkt über politische und gesellschaftliche Ereignisse berichten, ohne die konstituierenden Hintergründe genauer zu analysieren und diese Ereignisse zu reflektieren.
Nach dem 25. Oktober 2015 verschob sich der Fokus in den deutschen Medien temporär in Richtung Osten. Gerade genug, um Polen genauer unter die Lupe zu nehmen. Bereits am Tag der Parlamentswahl titelten deutsche Zeitungen allein auf Basis von Hochrechnungen. So veröffentlichte ΄Zeit online΄ einen Artikel mit dem Titel „Polen rückt nach rechts“ und bei der ΄Frankfurter Allgemeinen Zeitung΄ hieß es „Nationalkonservative feiern absolute Mehrheit“. Es schien so, als ob die Zeitungen ihre Schlagzeilen formulierten, bevor sie überhaupt die Ergebnisse kannten. Am folgenden Tag hieß es bei der ΄Tagesschau΄ „Erzkonservative zurück an die Macht“ und ΄Zeit online΄ titelte erneut „Polen auf Orbańs Weg“ Bei der Analyse der in den Artikeln und Beiträgen angesprochenen Themen fällt schnell auf, dass bestimmte Themen immer wieder aufgegriffen wurden, wohingegen andere marginalisiert wurden.
Zu den von der PiS in Aussicht gestellten Wahlversprechen gehörten kostenfreie Medikamente für Senioren ab 65 Jahren, die Anhebung des Mindestlohnes, die Erhöhung des Steuerfreibetrages, das Absenken der Steuern für kleine Unternehmen, das Absenken des Renteneintrittsalters auf das Niveau vor der letzten Rentenreform (Renteneintrittsalter für Männer 65 und für Frauen 60 Jahre) und eine Erhöhung des Kindergeldes auf 500 PLN (ca. 125€) ab dem zweiten und jedem weiteren Kind (in Polen unter dem Programm 500+ bekannt). Einige von den geleisteten Wahlversprechen – wie das Kindergeld und kostenfreie Medikamente für Senioren – wurden mittlerweile (teilweise) umgesetzt. Polen leidet – wie alle anderen europäischen Länder auch – unter dem demographischen Wandel, verbunden mit einer der niedrigsten Geburtenraten in ganz Europa. Die eben aufgeführten Punkte finden aber nur selten Eingang in unsere Medien.
Der Blick hinter die Kulissen
Die deutsche Berichterstattung konzentrierte sich zuletzt primär auf den Streit um das Verfassungsgericht, auf die Medienreform, auf den Umgang mit Flüchtlingen in Polen sowie die Darstellung von möglichen unterschiedlichen Standpunkten wie in der Klima- und Energiepolitik. Daraus wurden Prognosen bezüglich des deutsch-polnischen Verhältnisses abgegeben. Vor allem letzteres wurde stets mit einer negativen Prognose versehen. In diesem Zuge wurden immer wieder Vergleiche mit Viktor Orbán und Ungarn herangezogen. Artikel wie bei ΄Zeit online΄ unter dem Titel „Durchregieren“ und „Polen auf Orbańs Weg“ popularisieren komplexe Verhältnisse auf scheinbar einfache Tatsachen.
In diesem Artikel möchte ich nicht um Verständnis für die PiS werben, sondern darauf aufmerksam machen, dass die Wahlergebnisse Ausdruck lokaler gesellschaftlicher Probleme darstellen.Bei der deutschen medialen Berichterstattung über Ungarn lag der Fokus in den vergangenen Monaten auf der Flüchtlingspolitik und der Frage, ob Ungarn sich europäisch genug verhalte und nicht angesichts des Transfers von EU-Geldern zu unsolidarisch sei.
Vielmehr sollten die Ursachen einer solchen Entwicklung betrachtet werden. Die derzeit beobachtbaren Auswirkungen, beispielsweise in Form nationalkonservativer Regierungen, sollten zwar Gegenstand von Diskussionen sein, jedoch müssen die Ergebnisse der Wahl als das Resultat von soziokulturellen Problemen innerhalb der polnischen und ungarischen Gesellschaft gesehen werden. Diese formieren sich anhand niedriger Löhne, einer hohen Arbeitslosigkeit und einem nicht zu unterschätzenden postkommunistischen Erbe – Themen, die die PiS in ihrem Wahlkampf geschickt aufgriff und instrumentalisierte. Des Weiteren sind die Wahlergebnisse als Protest der Bevölkerung gegen die vorherige Regierung einzuordnen und weniger an rechtspopulistischen Tendenzen festzumachen. Besonders in Polen war die Bevölkerung mit der Vorgängerregierung sehr unzufrieden und wünschte sich einen Kurswechsel. Parteiinterne Streitigkeiten sowie das Gefühl von politischem Stillstand in Kombination mit Klientelwirtschaft schmälerten das ohnehin geringe Vertrauen der polnischen Bevölkerung in ihre Politiker noch weiter. Denn auch wenn die PiS die Wahl gewann, so war die Wahlbeteiligung mit nur knapp 50% extrem niedrig.
Um auf die eingangs aufgeworfene Problematik zurückzukommen. Durch die einseitige Berichterstattung in deutschen Medien werden Bilder heraufbeschworen, die der Situation in Polen und Ungarn nicht gerecht werden. Dies führt dazu, dass es bei Ungarn demnächst Paprika, Balaton, Orban und Grenzzaun heißen wird. Die politische Ebene überlagert das, was diese Länder ausmacht: ihr kultureller Reichtum, der ebenso einen Teil Europas darstellt wie die Deutschen, Franzosen oder Spanier. Europa sollte nicht nur Politik, sondern auch ein Gefühl sein! Die politische Ebene repräsentiert vielfach nicht den zwischenmenschlichen Alltag, in dem es eine Fülle an grenzüberschreitenden und bereichernden Kulturkontakten gibt.
Ein kritischer Blick
Ich fragte meine Freundin, wieso sie die PiS gewählt hat. Sie erzählte mir, dass sie die PiS nicht gewählt habe, weil sie sich mit deren Politik so stark identifiziere, sondern weil sie sich einen Wandel im Land wünsche: Perspektiven für die Jugend, höhere Löhne und mehr Arbeitsplätze im Inland, ohne den Zwang, ins Ausland gehen zu müssen.
Mittlerweile ist die Zahl der Berichte aus Polen und Ungarn wieder deutlich gesunken. So findet auch nur wenig Beachtung, dass es in Polen verschiedene große Initiativen gibt, die gegen die Regierung protestieren und sich für die Demokratie in Polen sowie für eine pro-europäische Ausrichtung ihres Landes einsetzen.
Wir sollten die Schwarz-Weiß-Sicht, Deutschland auf der einen sowie Polen und Ungarn auf der anderen Seite, differenzieren und die vielen Farbstufen in der Mitte zulassen, denn schwarz und weiß waren die Fernsehsendungen bis in die 1960er Jahre. Die will heute auch niemand mehr sehen.
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