Wer hat die Macht im Staat? Die Staats- und Rechtsphilosophie der PiS

 

Staatswappen Polens an der Präsidenzialkanzlei in Warschau Foto: Polen.pl (HF)

(Hörnum/Sylt, HF) Das Regierungsprogramm der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist für manchen nicht nachvollziehbar und es erscheint erratisch; doch es basiert auf einer philosophischen Grundlage. Mit der Verfassungskrise werden jetzt die Auswirkungen der revisionistischen Staats- und Rechtsphilosophie der regierenden PiS deutlich: Es wird an einer Revision grundsätzlicher Spielregeln im demokratischen Rechtsstaat gearbeitet.

Der Staatspräsident auf der Seite der gesetzgebenden Gewalt

Als Polens Präsident Duda am Abend des 3. Dezember 2015 im staatlichen Fernsehen seine Rede hielt, erklärte er zur Vereidigung der drei durch die PiS gewählten neuen Verfassungsrichter: “Um die unnötigen Zwistigkeiten zu beenden, welche die Autorität der wichtigsten Institutionen des polnischen Staates untergraben, habe ich mich als Wächter der Verfassung und der Kontinuität der Staatsgewalt dazu entschlossen, die gestern gewählten Richter zu vereidigen. Ich habe mich dabei vom Willen des neugewählten Sejm leiten lassen, in den die Polen eine so gewaltige Hoffnung auf die Erneuerung der Republik setzen.”

Für die Soziologin, Philosophin und Juristin Marta Bucholc und den Juristen Maciej Komornik, die beide an der Universität Bonn forschen und in der Zeitschrift Osteuropa einen sehr lesenswerten Artikel zum Thema veröffentlicht haben, enthalten diese Worte den Kern des neuen Regierungsprogramms. Sein zentrales Element ist ein neues Verständnis der Gewaltenteilung, das eine veränderte Beziehung zwischen den verfassungsmäßigen Machtorganen Legislative, Judikative und Exekutive bewirkt und sich auf eine neue Definition von Souveränität stützt.

In seiner oben erwähnten Rede führt der Präsident als Leitlinie seines Handelns den „Willen des neu gewählten Sejm“ an und nicht die Verfassung. Damit stellt er sich auf die Seite der gesetzgebenden Gewalt und lässt sich seine Entscheidungen vom Willen der Parlamentsmehrheit vorschreiben. Dies obwohl der Präsident in Polen – wie das Parlament – in allgemeiner und direkter Wahl gewählt wird und sein Mandat mindestens ebenso stark ist wie das der Volksvertretung. Als Staatsorgan sollte der Präsident jedoch das Gesetz zur Grundlage seiner Entscheidungen machen. In einem demokratischen Rechtsstaat ist die Gleichsetzung des Rechts mit dem Willen des Parlaments ein alarmierender Schritt.

Neue Verfassungsordnung soll Parlament mit PiS-Mehrheit stärken

Der Palast des Präsidenten, Foto: Polen.pl.

Verschiedene in den vergangenen Monaten entwickelten Pläne für den höheren Verwaltungsdienst (służba cywilna), das Gerichtswesen, die Staatsanwaltschaft und andere sind Ausdruck des Bestrebens der PiS, den Schwerpunkt der Verfassungsordnung in Richtung auf eine der Gewalten, auf das Parlament mit seiner PiS-Mehrheit, zu verschieben. Das zeigt sich auch in Entwicklungen wie dem Verzicht auf die Beratung von Gesetzesentwürfen mit Vertretern von Betroffenen oder mit Experten.

Vor dem Hintergrund der verminderten Autorität des Verfassungsgerichts und durch die Lähmung bei der Urteilsverkündung durch die Novellierung des Verfassungsgerichtsgesetzes erhält die PiS die Möglichkeit, beliebige Gesetzesänderungen durchsetzen. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit durch das Verfassungsgericht ist nicht mehr gewährleistet.

In einer Demokratie soll die Gewaltenteilung das Recht, ein bestimmtes Verhalten in politischen Prozessen zu reglementieren, so verteilen, dass kein Organ und keine politische Kraft es für sich allein beanspruchen kann. Jeder muss sich an diese Korrektur halten. Das beinhaltet auch Mechanismen, die vor einem Patt schützen, wenn sich Gruppen gegenseitig ohne Ende korrigieren. Die Urteile des Verfassungsgerichts hatten im polnischen Recht bisher genau diese Funktion. Jetzt aber, so Bucholc und Komornik, unterhöhlt die PiS die Aufteilung dieses Korrekturrechts, wodurch auch Regeln in Frage gestellt werden und alle politischen Kräfte  sich bemüßigt fühlen, ihre politischen Korrekturen durchzusetzen.

Neue PiS-Definition des Souveräns im Staat

Die PiS begründet dieses revisionistische Vorgehen mit ihrer Souveränitätsphilosophie. Gemäss dieser steht der Souverän über und außerhalb des Rechts; für eine Rechtsänderung genügt sein Wille. Erst in Parlamentswahlen kommt der Souverän zum Vorschein – natürlich nur bei einem bestimmten Wahlergebnis.

Gemäss den Autoren des erwähnten Artikels, hält die PiS nicht das Staatsvolk für den Souverän, sondern die Nation (pl. naród). Die „Nation“ besitzt, so wie es die PiS sieht, eine umfangreiche gemeinschaftliche Identität. Sie umfasst eine Gruppe von Menschen, die durch eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Werte – darunter christliche Werte in der polnischen Variante ihrer katholischen Ausprägung – und eine gemeinsame Sicht auf sich selbst als Gemeinschaft miteinander verbunden ist.

Die Einheit von Lebensstil, Ansichten und Weltanschauung geht einher mit einer Einheit des sozialen und kulturellen Gedächtnisses. Bucholc und Komornik schätzen dies als ein für die PiS ungemein wichtiges Motiv ein. Die Partei propagiert eine selbstreferentielle Heldengeschichte der polnischen Vergangenheit ohne historische Vielstimmigkeit, Schattierungen und Nuancen. Folglich wird der Souverän nur in jenen Wahlen gewählt, bei denen eine Partei siegt, die die „Nation“ repräsentiert. Diese erhält dann souveräne gesetzgeberische Kompetenzen.

Bucholc und Komornik stellen fest, dass dieser Logik zufolge der Souverän erstmals bei den Parlamentswahlen von 2015 gewählt wurde. Daraufhin begann dieser sofort mit dem sogenannten „guten Wandel“, mit dem Umbau des Staates, damit dieser dem Souverän vollständig entspricht. Für die PiS ist die „Nation“ einzig und unteilbar; daher will sie diese Unteilbarkeit auch rechtlich und politisch manifestieren.

Der “Wandel zum Guten”

Der „Wandel zum Guten“, so die beiden Forscher, soll eine Frage danach, wer regiert, überflüssig machen. Es regiert der “Souverän der letzten Stunde”, der die früheren, falschen Entscheidungen der vorherigen, nicht die „Nation“ repräsentierenden Parlamente ungültig macht. Damit wird ein fundamentales Prinzip der Demokratie beseitigt: die Annahme, dass das Volk als politisches Subjekt ununterbrochen fortdauert. Und die PiS verleiht sich durch diese Akzentverlagerung vom Staatsvolk zur „Nation“ das moralische Recht, bei Null zu beginnen.

Das Charakteristikum dieses Denkstils ist, so die Autoren, dass er nicht aus dem absoluten Nichts heraus entsteht, sondern eine “goldene Zeit” in der Vergangenheit sucht. In der polnischen Geschichte ist es schwer, eine solche zu finden, weshalb die PiS das soziale Gedächtnis intensiv filtert, um Material für ihre Vision zu erhalten. Dadurch entsteht ein aus Vorhandenem zusammengestelltes Ideenflickwerk.

Die historische Erfahrung einer Entfremdung vom Rechtssystem wird ausgenutzt

Die PiS nutzt die negativen Erfahrungen aus der Zwischenkriegszeit und der Volksrepublik Polen und die daraus folgende Entfremdung vom Rechtssystem Polens. Dabei, so die Autoren, filtert sie das kollektive Gedächtnis durch das beschriebene Konzept der “Nation”. Was dann, so die Bonner Forscher, zu einer selektiven Nicht-Anwendung der Rechtskultur führt. Wichtiges Element ist das Misstrauen gegenüber dem Recht und den Juristen, darunter auch den Verfassungsrichtern. Den hier aus ihrer Sicht bestehenden Handlungsbedarf hat die PiS bereits in ihrem Namen zum Ausdruck gebracht.

Die Staatstheorie der PiS ähnelt somit stark den Vorstellungen des Staatstheoretikers und Begründers des aufgeklärten Absolutismus Thomas Hobbes (1588 – 1679) wenn es heisst: Das Recht, auch wenn es seinem Wesen zufolge der ihrer Natur nach unbeschränkten menschlichen Freiheit Grenzen setzt, darf die Staatsgewalt nicht fesseln.

Den direkten Kontakt der Bürgergesellschaften Deutschlands und Polens verstärken

Mit diesem so grundsätzlich anderen staats- und rechtstheoretischen Ansatz ist die PiS nicht mit den Demokratievorstellungen der Regierungen und Bevölkerungen der allermeisten EU-Mitgliedsländer kompatibel. Auf ein Einlenken im polnischen Verfassungskonflikt sollte vor diesem Hintergrund nicht zu viel Hoffnung gesetzt werden, da die PiS dafür ihre Grundsätze aufgeben müsste. Ähnliches Denken zeigt sich auch in den Äusserungen Kaczyńskis zur anzustrebenden neuen Organisation der EU, gemäss denen den Nationalstaaten mit ihren Nationen wieder mehr Macht zukommen sollte. In Hinblick auf die implizite historische Bezugnahme auf die Logik der Zwischenkriegszeit dürften auch die offiziellen deutsch-polnischen Beziehungen auf längere Zeit behindert bleiben. Umso wichtiger wird es daher sein, auf der Ebene der direkten Kontakte der Bürgergesellschaften Deutschlands und Polens den Dialog zu unterhalten und zu verstärken.

Der Text des Artikels von Marta Bucholc und Macjej Komornik kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

Marta Bucholc und Maciej Komornik

Die PiS und das Recht
Verfassungskrise und polnische Rechtskultur
OSTEUROPA, 66. Jg., 1–2/2016, S. 79–93