Der Polnische Untergrundstaat – Polskie Państwo Podziemne – ist ein Phänomen, das außerhalb Polens weitgehend unbekannt ist. 1939, nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, flüchtete die polnische Regierung zunächst nach Paris, später nach London, von wo aus sie das Land weiter regierte. Die Verwaltung ging einfach in den Untergrund. Mit dieser Struktur ist Polen das einzige während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen besetzte Land, das nicht „nur“ eine Widerstandsbewegung unterhielt, sondern dessen staatliche Strukturen in dieser Form weiterbestanden.
Friedrich Cain, Doktorand am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz, befasst sich in seiner Promotion insbesondere mit Forschung und Bildung im polnischen Untergrund. Für Polen.pl erläutert er, wie der polnische Untergrundstaat und insbesondere das Bildungswesen damals funktionierten. Das Interview führte Jutta Wiedmann.
Polen.pl: Das Thema Deines Promotionsvorhabens lautet „Wissen im Untergrund. Polnische Forschung während der deutschen Besatzung“. Wie muss man sich das überhaupt vorstellen, wenn man im Untergrund studiert, lehrt und forscht?
Friedrich Cain: Ich beschäftige mich mit WissenschaftlerInnen und deren Tätigkeiten im Untergrund, dabei vor allem mit der Praxis der Forschung, also damit, wie versucht wurde, Forschung unter den Bedingungen des Untergrunds so zu gestalten, dass sie immer noch als wissenschaftliche Forschung gelten kann. Als Historiker braucht man z.B. Bücher und Quellen zum Arbeiten, als Chemiker Reagenzgläser. Das musste während der Okkupation anders besorgt werden als vorher, da die Deutschen, nachdem sie einmarschiert waren, alle Universitäten, Akademien, Institute und Labore geschlossen hatten und Polen nicht mehr den Zugang zu den notwendigen Gerätschaften hatten. Daneben gab es die Lehre im Untergrund, ein Bildungssystem von der Grundschule bis zur Universität.
Universitäre Strukturen gab es in den Städten, in denen es bereits vor dem Krieg schon Universitäten gegeben hatte, in Warschau, Krakau, Wilna und Lemberg. Die Universität Posen, die im Warthegau – einem in das Deutsche Reich eingegliederten Gebiet – lag, siedelte sich als Untergrunduniversität in Warschau an. Insgesamt existierten also fünf Universitäten und einige technische Hochschulen im Untergrund.
Die Lehre, d.h. der akademische Unterricht, fand meist in kleinen Gruppen von fünf bis sechs Personen statt, in einer Art Hybridform zwischen Vorlesung und Seminar. Es wurden Notenlisten geführt, die Universitäten waren untereinander vernetzt und aufgrund dieser Dokumentationen konnten nach dem Krieg auch viele Abschlüsse, die im Untergrund erlangt wurden, anerkannt werden. Einer der bekanntesten Studenten einer Untergrunduniversität ist übrigens Karol Wojtyła, der spätere Papst Johannes Paul II., der im Priesterseminar in Krakau war und neben anderen Fächern auch Literaturwissenschaften studiert hat.
Das Bildungs- und Schulsystem war aber nur ein Aspekt des Untergrundstaats, der über einen zivilen und einen militärischen Teil verfügte. Die Grundschule war deshalb so wichtig, da die deutschen Besatzer nur eine sehr rudimentäre Schulbildung für die polnische Bevölkerung vorgesehen hatten. Fächer wie Geschichte, Geographie und Literatur kamen in den „deutschen“ Schulen nicht vor und wurden deshalb in Geheimklassen unterrichtet.
Polen.pl: Und wie muss man sich die anderen Strukturen des Untergrundstaats vorstellen? Gab es die Bezeichnung Państwo Podziemne/Untergrundstaat von Anfang an?
Friedrich Cain: Państwo Podziemne ist ein zeitgenössischer Begriff, der schon während der Okkupation verwendet wurde. Nach bestimmten politikwissenschaftlichen Definitionen ist es gerechtfertigt, diese Strukturen Staat zu nennen, da alle Elemente dafür vorhanden waren: Es gab ein definiertes Territorium, eine Bevölkerung, eine Armee, eine Regierung und eine zivile Verwaltung inklusive Gerichtsbarkeit. Diese Merkmale sind es auch, die den polnischen Untergrundstaat von den Widerstandsstrukturen in den anderen besetzten Ländern fundamental unterscheiden. Alles, was eine funktionierende Staatsgesellschaft ausmacht, war vorhanden. Es gab ein Post- und Kuriersystem, das bereits beschriebene Bildungssystem inklusive Stipendien, außerdem war die Presselandschaft sehr vielfältig.
Der Untergrundstaat war übrigens kein völlig neues System, denn Widerstand hat Tradition in Polen. Die fängt spätestens mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts an. 1830/31 gab es den Novemberaufstand, 1863/64 den Januaraufstand. Im Januaraufstand fällt auch zum ersten Mal die Bezeichnung Państwo Podziemne.
Polen.pl: Warum ist das Phänomen des Untergrundstaats außerhalb Polens so wenig bekannt?
Friedrich Cain: Mit polnischer Geschichte beschäftigt man sich außerhalb Polens generell nur sehr wenig. Im deutschen Schulunterricht kommt Polen, wenn es um den Widerstand im Zweiten Weltkrieg geht, kaum vor. Ein weiterer Grund ist sicherlich, dass man im sozialistischen Polen nicht über den bürgerlichen bzw. konservativen Widerstand sprechen durfte. Ein Beispiel ist der Warschauer Aufstand. Die Tatsache, dass die Polen sich in gewisser Weise selbst von den deutschen Besatzern befreien wollten, um den Sowjets entgegentreten zu können, war natürlich ein Thema, über das man in der Nachkriegszeit in Polen nicht öffentlich sprechen konnte.
Polen.pl: Was für Forschungen gibt es denn bereits zu dem Thema, insbesondere außerhalb Polens?
Friedrich Cain: Es gibt vor allem viel „Materialsammlungen“, deskriptive Literatur. Seit ca. zehn bis 20 Jahren gibt es auch immer mehr Werke, die sich mit der Alltagsgeschichte beschäftigen.Die erste große nicht-polnischsprachige Studie erschien 1979 von Jan Tomasz Gross „Polish Society Under German Occupation. The General Government, 1939 to 1944“, das ist keine historische Arbeit, sondern eine soziologische Dissertation. Gross beschreibt dort, wie die Gesellschaftsstrukturen im Untergrund funktionierten.
Polen.pl: Eine der bekanntesten Quellen über den Untergrundstaat ist ja „Mein Bericht an die Welt“ von Jan Karski, der 1944 erschienen ist…
Friedrich Cain: Das ist ein sehr wichtiges Dokument, aber keine wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, sondern ein Bericht für die amerikanische Regierung. Dann gibt es noch „Biedny Język“ von Piotr Mitzner, das im Jahr 2011 erschienen ist. Da geht es um Literatur im Untergrund, u.a. um Czesław Miłosz. Außerdem gibt es einige Werke zur Kultur im Untergrund.
Polen.pl: Wie „exotisch“ ist eigentlich Dein Promotionsthema? Also, sich als Deutscher mit Forschung im Untergrund, also einem sehr speziellen Randthema des ohnehin in Deutschland eher unbekannten Untergrundstaats zu befassen, ist doch eher ungewöhnlich, oder?
Friedrich Cain: Sich mit dem Zweiten Weltkrieg zu befassen, ist zunächst nichts Neues… Es gibt eine ganze Reihe deutscher Historiker, die sich auch mit Polen befassen, weil man – wenn man zum Zweiten Weltkrieg forscht – Polen nicht außen vor lassen kann. Das fing mit Forschungen zur Erinnerung an, ca. Mitte bis Ende der 1990er Jahre, aber verstärkt auf jeden Fall seit ca. zehn, 15 Jahren. Polnische Fachkollegen, da habe ich vor allem mit HistorikerInnen zu tun, reagieren auf mein Thema eigentlich immer positiv. Wenn man als Deutscher polnisch spricht und auch Gespräche über wissenschaftliche Themen auf polnisch bestreiten kann, erleichtert das einem natürlich sehr den Zugang.
Bei meinen Forschungen zum Untergrund geht es letztendlich darum, wie in einer Zeit, in der eigentlich nichts normal ist, eine Normalität hergestellt wird, d. h. wie versucht wird, die Normalität des wissenschaftlichen Alltags herzustellen. Ob das funktioniert oder nicht, ist mir zunächst nicht wichtig. Der Schwerpunkt meiner Fragestellung lautet nicht, was bei den Forschungen herauskam, sondern wie versucht wurde, einen Forschungsalltag in Gang zu bringen und aufrechtzuerhalten und wie dann darüber reflektiert wurde. Forschung, die keine Ergebnisse erbracht hat, ist für mich also auch interessant, denn es geht mir vor allem um die Reflexion dieser WissenschaftlerInnen darüber, was man für gute Forschung braucht, aber eben zu den Bedingungen, die im Untergrundstaat herrschten oder was man „weglassen“ kann.
Wenn ich mich abseits universitärer Diskussionsforen bewege, wird mir deshalb ab und zu die Frage gestellt, ob ich denn eine Geschichte von „scheiternden Polen“ schreiben will. Geschichtswissenschaftlich war es tatsächlich lange üblich, „Heldengeschichten“ oder über Fortschritt zu schreiben anstatt zu beobachten, wie etwas funktioniert oder eben nicht funktioniert hat. Ob etwas funktioniert, ist nicht meine Fragestellung, bei mir liegt der Schwerpunkt darauf, wie über das (Nicht-)Funktionieren reflektiert wird.
In diesem Kontext zu vermitteln, dass es mir natürlich nicht darum geht, darüber zu schreiben, wie Polen scheitern, kann tatsächlich schwierig sein. Das kommt allerdings vor allem außerhalb des akademischen Bereichs vor. Die meisten Personen, mit denen ich über das Thema gesprochen habe, sind eher erfreut dass ich mich als Deutscher mit einem solch polnischen Thema beschäftige. Ach, eine Sache noch: Meine Formulierungen „versuchte Einrichtung einer Normalität“ oder „Normalität des Unnormalen“ werden manchmal dahingehend missverstanden, als ob ich so etwas wie das Martyrium des polnischen Volkes herabwürdigen wolle. Das ist manchmal überraschend. Das sind aber meiner Einschätzung nach eher persönliche Einschätzungen als fachlich-historische Kritik.
Polen.pl: Sind das dann eher Vorbehalte gegenüber Deutschen oder Unverständnis dem Thema gegenüber?
Friedrich Cain: Als deutscher Historiker bin ich eigentlich nie angegriffen worden, wenn dann eher als so eine Art postmoderner Trottel… Ich glaube, da geht es auch eher um das Primat, das die Zeitzeugen für sich beanspruchen. Sie sorgen sich ab und an, dass ihr Tun nicht ausreichend gewürdigt wird. Es ist aber natürlich überhaupt nicht meine Intention gegen ihre Schilderungen anzuschreiben und zu sagen „wie es wirklich gewesen ist“, sondern von den Quellen ausgehend in einem weiteren Sinne über Wissenschaft als kulturelles, soziales und psychisches Phänomen nachzudenken.
Polen.pl: Danke für das Interview!