Interview: Wer gut ist, setzt sich durch. Die anderen gehen aus dem Beruf

Polen.pl-Gespräch mit der Warschauer Stadtführerin Marzena Świrska-Molenda

Polen.pl hat sich mit der Warschauer Fremdenführerin Marzena Świrska-Molenda getroffen und sie bei einem Spaziergang durch Stadtteil Praga über ihre Erfahrungen bei Stadtbegehungen mit deutschen Touristen und ihre Einstellungen zum Beruf befragt. Die lebhafte Germanistin hat in einem Aufbaustudium Soziologie studiert und ist zudem vereidigte Dolmetscherin für die deutsche Sprache, Lexikologin und seit den neunziger Jahren lizensierte Stadtführerin und Reiseleiterin. Nach einer Babypause hat sie letztes Jahr ihre eigene Firma „Polintours“ gegründet. Mit ihr bietet sie Stadt- und Kulturführungen sowie thematische Rundgänge in Warschau an. Marzena hat sich auf die miteinander verflochtenen Themen Geschichte Warschaus, deutsche Besatzung und jüdisches Kulturerbe spezialisiert.

Polen.pl: Marzena, wie bist Du Stadtführerin geworden?

Marzena Świrska-Molenda: Nun, ich bin in der Warschauer Innenstadt aufgewachsen und habe mich schon immer sehr für meine Stadt interessiert. Unsere Familie war Mitglied in der Polnischen Gesellschaft für Tourismus und Landeskunde; so sind wir viel gereist und ich wollte schon als Kind Stadtführerin werden. Ich habe dann als junge Erwachsene die einjährige Ausbildung als Stadtführerin gemacht, das beginnt jeweils im Oktober und durch das Winterhalbjahr hat man dann Vorlesungen. Wird das Wetter besser, geht’s ab Mai auf Exkursionen in die Stadt. Die Prüfung ist dann nicht ganz einfach. Heute werden alle, die mehr als drei Personen durch die Stadt führen von der straż miejska (Gemeindepolizei), überprüft, ob sie auch eine Lizenz haben (zeigt ihren Umhängeausweis mit Bild). Jetzt soll aber der Beruf dereguliert werden. Was das dann bedeutet, ist uns noch nicht ganz klar.

Ich habe anschliessend nebenberuflich für verschiedene Reisebüros Touristen durch meine Stadt geführt und Reiseleitungen gehabt; denn in meinem Hauptberuf habe ich als Lexikologin gearbeitet und mich mit zweisprachigen Wörterbüchern befasst. Aber im Mutterschaftsurlaub vor drei Jahren habe ich mir gedacht, dass ich jetzt die Fremdenführung auch zu meinem Hauptberuf machen könnte. Und ich habe meine eigene kleine Firma gegründet; so kann ich Familien- und Berufsleben besser unter einen Hut bekommen.

Gibt es nicht viel oder zu viel Konkurrenz für das doch relativ kleine Warschau?

Das hängt davon ab, in welchem Sprachsegment man arbeitet. Die englischsprachige Konkurrenz ist grösser als die deutschsprachige, allerdings ist deren Nachfrage auch grösser. Allgemein gilt aber: Wer gut ist, setzt sich durch; die anderen gehen aus dem Beruf. Ich finde es gut, dass es Konkurrenz gibt, denn wir bedienen einen mit fünf Prozent jährlich wachsenden touristischen Markt, der bedient werden will. Und es kommen ja auch jedes Jahr rund 3 Millionen ausländische Gäste nach Warschau, von denen 10 Prozent deutschsprachig sind.

Wer sind denn deine Gäste, die du herumführst?

Die sind sehr, sehr unterschiedlich. Aber häufig sind das Deutsch sprechende, die mit einem gewissen Vorwissen über die deutsche Besatzung nach Warschau kommen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg auskennen und die auch etwas über das jüdische Kulturerbe erfahren wollen. Die haben dann ganz genaue Vorstellungen davon, was sie sehen wollen. Von denen, die darüber wenig bis nichts wissen, sind einige immer wieder ganz ungläubig, wenn sie hören, dass Warschau zum Ende des Krieges zu 85 Prozent zerstört war.

Was ist denn bei der Führung von deutschsprachigen Gästen anders, als wenn du englischsprachige führst?

(Lacht) Also, das ist ganz anders. Besonders bei den Deutschen muss alles nach Plan gehen. Man ist sehr pünktlich bei den Verabredungen und ich muss mich genau ans Programm halten. Schon eine kleine Abweichung oder Improvisation wird nicht gerne gesehen. Ausserdem haben diese Gäste, was die Geschichte angeht, ein viel grösseres Vorwissen als die englischsprachigen, besonders die von Übersee. Das betrifft meistens das Warschauer Ghetto. Sie kommen dann selbst mit Fragen. Normalerweise wird in den ersten zehn Minuten eines Rundgangs schon klar, wo der Schwerpunkt liegen wird. Diese Kunden haben meistens auch ein klares Bewusstsein für die deutsch-polnischen Beziehungen. Solche Gäste stellen natürlich auch die schwierigeren Fragen, ich finde das aber gut, es ist dann auch für mich eine Herausforderung. Manchmal werde ich von den Busfahrern, die uns fahren, gefragt, was ich denn mit den Deutschen im Gebiet des ehemaligen Ghettos so lange mache. Sie sagen dann, dass man diesen Leuten doch nichts über den Zweiten Weltkrieg erzählen kann. Wenn ich den Fahrern dann mein Programm erkläre, können sie das kaum glauben.

Die Warschauer Altstadt am Hauptmarkt (Foto: Polen.pl)
Die Warschauer Altstadt am Hauptmarkt (Foto: Polen.pl)

Wie reagieren die deutschen Gäste auf deine Berichte vom ehemaligen Ghetto?

Mir ist es noch nie passiert, dass jemand diese Tatsachen geleugnet oder sonst wie nicht angemessen reagiert hätte. Alle wissen, was passiert ist. Alle wollen diese Geschichte hören; oft bekommen die Menschen eine Gänsehaut, vor allem bei der Geschichte des Ghettos, das in Europa das grösste war. Die einzelnen Stücke, die man zeigen kann, sind in Warschau sehr verstreut, und so ist es wirklich schwierig, sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Ich zeige dann den Grzybowskiplatz, die letzte Synagoge, Überreste der Ghettomauer, die letzten Häuser in der Źelaznastrasse oder den Ort, wo die Brücke die zwei Teile des Ghettos verband. Auch ein verbliebenes Stück Kopfsteinpflaster gibt schon einen Eindruck. Ausserdem arbeite ich ja mit Bildern meinem Tablet, mit iPods und je nach verfügbarer Zeit auch mit Filmen, Reportagen und Interviews.

Was ist denn die häufigste Frage deutscher Besucher Warschaus?

Sie fragen mich, wo das Ghetto war und ob es davon noch etwas gibt. Und: Wer hat den Wiederaufbau der Altstadt finanziert? Ihr Polen seid doch ein armes Volk. Da kommt dann von mir das sozialistische Thema „Das ganze Volk baut seine Hauptstadt auf“ (Cały naród buduje swoją stolicę), aber das ist dann eine andere Geschichte. Oft werde ich auch nach dem Antisemitismus in Polen gefragt: Wie stehen die Polen den Juden gegenüber? Wie viel Juden gibt es? Ist es wahr, dass es einen starken Antisemitismus gibt? Das sind die Fragen, die gestellt werden.

Ein Relief mit dem Ausmass des Warschauer Ghettos (Foto: Polen.pl)
Ein Relief mit dem Ausmass des Warschauer Ghettos (Foto: Polen.pl)

Wie reagieren die Kunden auf eine Konfrontation mit den Verbrechen der Deutschen?

Wenn ich die Führung durch das Warschauer Ghetto mache, die ein Teil einer Warschau-Führung ist, dann haben wir 40 Minuten, um über diese Geschichte zu sprechen. Das ist dann eine von vielen Geschichten. Das sind dann Leute, die das gesamte Warschau sehen wollen. Ich sehe bei ihnen keine besondere Reaktion.

Wenn aber Menschen speziell zur Tour „Warschauer Ghetto“ kommen, dann sieht man auch die Gänsehaut, auch im Sommer – und das sagen sie auch. Wenn wir zum Denkmal Umschlagplatz kommen, dann herrscht Schweigen. Sie brauchen dann diese Stille und dann ist es auch nicht gut, wenn ich dann sofort weiter spreche.

Viele wollen auch genau wissen z.B. wie es in Treblinka ausgesehen hat oder was der Unterschied zwischen den Vernichtungslagern und Arbeitslagern, Konzentrationslagern war. Wenn ich zu diesem Thema komme, dann fragen die Menschen: Ja und, sagen sie, wie hat das ausgesehen? Und dann muss man mit Details arbeiten: dass die Menschen ankamen, sich dann ausziehen mussten, usw.

Nożyks Synagoge in Warschau (Foto: Polen.pl)
Nożyks Synagoge in Warschau
(Foto: Polen.pl)

Ist das den Leuten bewusst, dass das hier eine andere Art von Besatzung war als in Frankreich?

Ja, ohne weiteres, ich würde sagen, vor allem den deutschsprachigen Gästen. Ich werde auch oft von meinen Kollegen gefragt, warum ich mit den deutschsprachigen Gästen arbeite. Es wäre doch viel einfacher mit englischsprachigen zu arbeiten. Also, warum machst du das mit den Leuten? Es wäre doch einfacher, sich auf die Amerikaner zu konzentrieren. Für mich ist das zu langweilig, hier gibt dann eben eine Herausforderung. Hier werden schwierige Fragen gestellt und man sieht auch, dass die Menschen es hören wollen und dass sie an dieser Geschichte interessiert sind.

In welcher Rolle siehst Du dich als Stadtführerin bei so schwierigen Themen?

Als jemand, der im deutsch-polnischen Dialog steht, als Privatperson. Als Pädagogin sehe ich mich nicht, dazu bin ich nicht geeignet. Ich bin keine Lehrerin. Ich betrachte es eigentlich als eine Form des Dialogs; denn ich bin nicht da, um Menschen zu belehren, ihnen etwas beizubringen, sondern um eine Art von Gespräch zu führen. Es ist ja nicht so, dass die Menschen nur von mir lernen, sondern dass ich auch sehr viel von diesen Menschen mitbekomme. Ich fühle mich nicht als Pädagogin, denn Pädagogik ist für mich diese traditionelle Art, dass da jemand steht und sagt: „So war es!“ Ich bin mir selbst nicht sicher. Oft kommt die Frage: „Wie viele Menschen haben das Ghetto überlebt?“ Man weiss nicht wie viele; ich will nicht sagen: „Ja, wissen sie, soundso viele haben überlebt.“ Sehr viele Historiker sagen: „Wir wissen nicht wie viele.“ Viele wurden in polnischen Familien versteckt. Es ist nicht meine Rolle, das schwarz-weisse Bild zu zeigen, zu sagen: Und so war es!

Ich sehe hier meine Rolle in Warschau, dass ich eben das, was man nicht sieht, erkläre, diesen Hintergrund und das die Menschen einfach versuchen zu verstehen und sich ein bisschen auch für andere Perspektiven zu öffnen versuchen.

Welche drei Orte gefallen deinen Kunden in Warschau am besten?

Sicher die Altstadt, aber die am meisten bewegende Geschichte ist die des Warschauer Ghettos; der jüdische Friedhof und Praga, auch das jüdische Praga und das schmalste Haus der Welt von Etgar Keret, das sind Orte und Geschichten, die gefallen.

Was ist für dich persönlich das Schönste in Warschau?

Was ich wirklich mag, das ist der Powązki-Militärfriedhof, das ist nicht der schönste, aber ich habe dort sehr viele meiner Familienmitglieder liegen und ich bin dort immer am 1. August zu den Feierlichkeiten. Das ist für mich immer der Ort, den ich gerne besuche.

Was ich in letzter Zeit aber wirklich schön und interessant finde, ist das Etgar Keret Haus, auch diese Idee und dieses Projekt, diese Zusammensetzung von Architekt und Schriftsteller und diese Baulücke. Architektonisch gesehen ist das, wenn man es von aussen ansieht, ja nicht so schön; aber als Idee, dass man nach so vielen Jahren zu dieser Geschichte und gerade zu diesem Menschen zurückkommt. Und ich finde den jüdischen Friedhof schön, besonders im Herbst, wenn die Blätter fallen. Und dieser Friedhof ist riesengross und es sind selten Menschen dort.

Marzena, vielen Dank für dieses Interview.

Kontakt zu Marzena Świrska-Molenda über

Polintours

Tel: +48 607 677 785

Email: office@polintours.com

Webseite: www.polintours.com