Schmutzig-grauer Sand und grüner Wegerich auf Trampelpfaden – das ist meine Berliner Jugenderinnerung. So sahen die Wege aus, als ich in den siebziger Jahren den Tiergarten nahe der Mauer auf der Suche nach geheimen Gängen oder ähnlich aufregendem durchstreift habe. Lange habe ich an diese Sandwege nicht mehr gedacht – bis ich dann im vergangenen Sommer in Warschau eine Abkürzung durch den Park zum Wissenschaftszentrum Kopernikus nahm. Da war das vertraute heimatliche Gefühl wieder, das ich während der langen Jahre in der Schweiz noch nie gespürt hatte. Und ich begann Ähnlichkeiten der beiden Hauptstädte zu sehen.
Unter dem Pflaster liegt der Strand
Auch in Warschau gilt: Unter dem Pflaster liegt der Strand. Mit seiner landschaftsgestaltenden Kraft hatte die letzte Eiszeit beide Städte vor 10000 Jahren zu Geschwistern gemacht und sie durch ein grosses Tal verbunden. In diesem Warschau-Berliner Urstromtal flossen die riesigen Schmelzwassermassen in die heutige Nordsee ab.
Damit wurde auch die geografische Lage der Städte ähnlich: im Tal der Fluss, oberhalb der Ufer die Höhenzüge. In Warschau ist die Weichsel breit, dafür ist am (linken) Ufer gleich die Geländekante zu sehen. In Berlin ist es umgekehrt; schmale Spree und die Höhen erst ein paar Hundert Meter im Norden und im Süden, wo Barnim und Teltow beginnen. Die Seifenkisten vom Platz der Luftbrücke könnten so ohne die Vorarbeit der Weichsel-Eiszeit nicht über den Mehringdamm ins Spreetal herunter rasen.
Magnatenpaläste auf der Skarpa
Der Warschauer oder Weichselhang (poln. skarpa warszawska, frz. escarpé, engl. escarpment, dtsch. Steilhang, Böschung) ist das charakteristischste Naturelement Warschaus. Es besteht – wie die Berliner Hochflächen Barnim und Teltow – aus Geschiebemergel, Schmelzwassersanden, Schluffen und Ton und liegt auf der linken Weichselseite. In unterschiedlicher Entfernung vom Ufer verläuft der Hang parallel zur Weichsel. Zehn bis fast dreissig Meter über den Fluss aufragend bot und bietet die Skarpa schöne Ausblicke auf Gärten sowie die Weichsel und war bevorzugter Ort für den Bau von Herrscher- und Magnatenpalästen wie z.B. des heutigen Präsidentenpalastes. Während die erste mittelalterliche Burg oben auf der Skarpa lag, befand sich die Siedlung auf der unteren Weichselterrasse am Fluss. Dagegen wurde Berlin in einer sumpfigen Gegend an der Spree gegründet. Die geografische Situation des Warschauer Weichselhangs kann in Berlin vielleicht mit der Geländekante an der Havelchaussee nördlich des Grossen Fensters an der Havel verglichen werden.
Als Besucher der Polnischen Hauptstadt kann man diese Geländekante hinter den Universitätsgebäuden an der Nowy Świat (Kazimirzowskipalast hinter der alten Universitätsbibliothek) oder vom Park hinter dem Palast von Konstanty Zamoyski am Ende der Foksalstrasse für einen Ausblick nutzen. Aber auch das Zentrum für Moderne Kunst im Ujazdowski-Schloss südlich der Jerusalemer Alleen steht an dieser Kante.
Trümmerschuttbeseitigung nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten in Warschau rund 20 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt der von den Deutschen systematisch gesprengten und verbrannten und so zu über 80 Prozent zerstörten Stadt entsorgt werden. Neben dem Bau des mittlerweile durch das neue Nationalstadion ersetzten Zehn-Jahres-Stadion auf der rechten Weichselseite wurde ein Teil des Trümmerschutts für Aufschüttungen entlang der Skarpa sowie zum Wiederaufbau verwendet. In Berlin fiel aufgrund der Grösse der Stadt rund die dreifache Menge an Schutt an. Er wurde in den Nachkriegsjahren für Bunkereinschüttungen, Dammschüttungen und für Trümmerberge wie dem Teufelsberg, dem Insulaner oder den Sportanagen am Lochowdamm verwendet.
Beiden Städten drohte aufgrund ihrer starken Zerstörung nach dem Krieg eine Verlagerung an andere Orte. In Polen wurde die Verlegung der Hauptstadt nach Krakau, Lodsch oder Posen diskutiert. In Deutschland gab es Stimmen, die einen Neubau des zerstörten Berlins in der Lüneburger Heide favorisierten, dabei aber übersahen, dass die unterirdische Infrastruktur durch die Luftangriffe und den Strassenkampf nicht zerstört worden war.
Orientierung zum Wasser
Die Weichsel in Warschau und die Spree in Berlin gehörten nach dem Zweiten Weltkrieg im Bewusstsein ihrer Einwohner lange nicht zur Stadt. Nachdem die Weichselufer früher als Handels- und Logistikplätze eine ökonomisch wichtige Funktion besassen, waren sie in den letzten Jahren eher eine Art Stadtbrache. Dies gilt auch für die Funktionen der Flüsse und Kanäle in Berlin, die anfangs des 20. Jahrhunderts als Versorgungsadern der Stadt dienten. Nicht von ungefähr kommt der Spruch: „Berlin wurde aus dem Kahn erbaut“, ein Hinweis auf die über das Wasser angelieferten Baumaterialien in der Boomzeit der Stadt Ende des 19. Jahrhunderts. Erst in den letzten Jahren haben beide Städte sich baulich zu ihren Flüssen hin orientiert. Warschau hat mit der neuen Universitätsbibliothek und mit dem Wissenschaftszentrum Kopernikus am Weichselufer sowie mit der Planung des Ausbaus der Weichselpromenade bedeutende Schritte in diese Richtung unternommen. Das Potential für einen weiteren Ausbau der Ufer ist vorhanden, stellt jedoch auch eine politische und städtebauliche Frage dar. Mit dem Bau der U-Bahnstation Powiśle am linksuftigen Weichselufer dürfte die gesamte an der Weichsel liegende Gegend einen Entwicklungsschub erhalten.
Entwicklungspotential an allen Ufern
Während an der Weichsel gegenüber der Altstadt in einem Auenwald mit Wegen ein Naherholungsgebiet für Jogger, Fahrradfahrer und Angler entstand, stellt auf der linken Weichselseite der starke und lärmige Uferstrassenverkehr, von dem ein Teil in einen Tunnel verlegt wurde, für weitere Bautätigkeiten ein Hindernis dar. Die Kultur- und Partyszene hat ihre Möglichkeiten erkannt und – wie in Berlin entlang der Spree – an der Weichsel verschiedene künstliche Strände und (temporäre) Partyorte geschaffen, die im Sommer gut besucht sind.
In Berlin hat die Orientierung zur Spree einige Jahre Vorsprung, da das Potential bereits nach der Maueröffnung erkannt wurde, als die grossen Investitionsvorhaben geplant wurden. Zentrumsnah, doch als Bauland noch günstig, wurde vor allem in den Stadtbezirken Mitte, Friedrichshain und Kreuzberg die Nähe zum Wasser gesucht und vermarktet. Die grossen Bauvorhaben an der innerstädtischen Spree von den Stadtteilen Charlottenburg über Mitte nach Treptow sprechen eine deutliche Sprache.
Warschau und Berlin – das sind auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Städte; auf den zweiten Blick werden jedoch viele Gemeinsamkeiten deutlich. Nicht nur für Berliner gibt es vieles – in einer vertrauten Lage – zu entdecken.