Was Ihnen entgeht: Die 3. Mai-Verfassung

Die meisten polnischen Feiertage erinnern eher an traurige Ereignisse. Dies ergibt sich aus der eher tristen Geschichte des Landes (zumindest vom 17. Jahrhundert an betrachtet). Doch: In der Historie unseres östlichen Nachbars gab es auch lichte Momente. An einen davon erinnert der dritte Mai.

 

Revolution in Warschau

Am dritten Mai 1791 rumorte es in den Straßen von Warschau. Seit drei Jahren tagte schon der polnisch-litauische Reichstag und es ging das Gerücht um, dass es an diesem Tag endlich zu einem Abschluss kommen soll. Die Stimmung war erhaben und aufgeladen. Die zeitgenössischen Warschauer und Bewohner anderer Städte und Regionen Polens, die in die Stadt geströmt waren, waren sich der historischen Bedeutung der Ereignisse bewusst, deren sie beiwohnten. Plötzlich ließ sich aus der Nähe des Königsschlosses ein Stimmengewirr vernehmen. Das Gedränge der dort versammelten Menschen verdichtete sich. König Stanislaus August trat aus dem Schloss hervor mit einem Stapel Papiere in der Hand. Was er in seiner Rechten hielt, war der Versuch, die missliche Lage des Landes abzuwenden und es in eine verheißungsvolle Zukunft zu führen. Es war das gerade verabschiedete Grundgesetz der polnisch-litauischen Adelsrepublik – die erste moderne Verfassung Europas. Und wie die nahe Zukunft zeigen sollte, war es auch der Schwanengesang eines dem Untergang geweihten Reiches.

 

Der Inhalt der Verfassung

Freilich gab es in den Jahren und Jahrhunderten davor Dokumente, die das gesellschaftliche und politische Leben diverser europäischer Länder regelten. Das gilt beispielsweise für England (siehe Magna Carta), Korsika, aber auch für Polen selbst (z.B. die Statuten von Petrikau von 1496). Was hob also die 3. Mai-Verfassung von ihren Vorgängern ab? Was macht sie so besonders und verleitet dazu, sie als die erste moderne Verfassung Europas zu bezeichnen? Nun, vereinfacht ausgedrückt: Es waren die an die aufklärerischen Aspekte angelehnte Gewaltenteilung des Staates, ihre allumfassende Gültigkeit sowie die demokratische Art und Weise, wie sie verabschiedet wurde. Aber eins nach dem anderen.

Die spezifische Lage und Situation in Polen muss bei der Betrachtung der Verfügungen der 3. Mai-Verfassung stets mitgedacht werden. So schaffte das polnische Grundgesetz von 1791 beispielsweise die Wahlmonarchie ab. Dies erscheint auf den ersten Blick das moderne Prinzip der Volkssouveränität zu verletzen. Es stellt aber auch einen vermeintlichen Rückschritt in der republikanischen Tradition Polens dar. Wie ist das zu erklären?

 

Ein geschichtlicher Exkurs

Seit dem Tod des letzten Königs aus der Dynastie der Jagiellonen, die zeitweise über Polen-Litauen, Böhmen und Ungarn herrschte, wandelte sich das Land im späten 16. Jahrhundert in eine Adelsrepublik um. Dies sorgte zum einen dafür, dass bis zu 15 Prozent der polnischen Gesellschaft (so viele waren in etwa geadelt) einen politischen Einfluss auf die Geschicke des Landes gewannen. Ein Selbstbestimmungswert, der im damaligen Europa seinesgleichen sucht. Zum anderen aber ließ die wachsende Macht der Aristokratie, die schrittweise Entmachtung der Wahlkönige sowie der radikale Parlamentarismus, der durch das Gesetz der Einstimmigkeit die Legislative lähmte, das einst mächtige Reich zusehends zum Spielball der benachbarten Großmächte Preußen, Österreich und insbesondere Russland degradieren.

 

Antwort auf Missstände

Die Einführung einer erblichen Monarchie sollte dieser unheilvollen Entwicklung Einhalt gebieten. Flankiert wurde das Königtum allerdings nach dem Prinzip der Volkssouveränität von Rousseau und der Gewaltenteilung von Montesquieu durch zwei Parlamentskammern. Diese setzten sich nicht wie bisher ausschließlich aus dem Adel, sondern auch aus dem Bürgertum zusammen. Zudem galt bei den Abstimmungen fortan das Mehrheitsprinzip. Artikel VIII der Verfassung führte darüber hinaus eine unabhängige Legislative ein. Die Regierung, bestehend aus Ministern, unterlag ausschließlich dem Parlament. Dem König fiel in dieser Konstellation  lediglich eine repräsentative Funktion zu.

Die Verfassung regelte ferner eine Reihe anderer Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens, darunter die Religionsfrage. Nachdem Polen im 16. Jahrhundert noch als ein Hort freier und rechtlich verankerter Gedanken- und Religionsausübung galt (vgl. die Konföderation von Warschau 1573) , durchlief es im 17. Jahrhundert eine Entwicklung hin zum reaktionären Katholizismus. Die Verfassung vom 3. Mai bestätigte zwar die Vormachtstellung des Katholizismus, indem sie ihn zur Nationalreligion erklärte, gleichzeitig stellte sie aber alle Andersgläubigen unter den Schutz des Staates und gewährte ihnen die freie Ritusausübung.

Die Verfassung wurde ins Deutsche, Französische und Englische übersetzt. 25 Jahre nach ihrer Verabschiedung sollte sie auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls Veränderungen und Anpassungen unterzogen werden.

 

Kritische Rezeption

Bereits im 18. Jahrhundert fand die Verfassung vom 3. Mai eine positive Resonanz. Namhafte Sprecher und Denker der Aufklärung, allen voran Thomas Paine und Edmund Burke, bescheinigten ihr eine bahnbrechende Rolle in der gesellschaftspolitischen Entwicklung Polens und des Kontinents. Neben den vielen positiven Stimmen im In-  und Ausland gab und gibt es allerdings auch negative Meinungen. Diese hinterfragen die 3. Mai-Verfassung und ihre Errungenschaften kritisch.

Zu den meistgenannten Kritikpunkten gehört die rechtliche Stellung der Bauern. Im 18. Jahrhundert lebte ihre überwältigende Mehrheit in Polen in Leibeigenschaft. Dass dies auch in Preußen oder anderen Ländern (Mittel-)Osteuropas der Fall war, machte die Lage für die Betroffenen nicht besser.

Während die Verfassung dem Adel und der Bourgeoisie umfassende und präzise definierte Rechte zusprach, stellte sie die Bauernschaft im Artikel IV lediglich unter den Schutz des Staates und der Regierung. Sie führte diesen Schutz jedoch nicht näher aus. Die persönliche Freiheit der Bauern, oder gar deren Wahlrecht, standen dabei überhaupt nicht zur Debatte. Polen, anders als manche Länder Westeuropas, sei noch nicht soweit, lautete die gängige Meinung des Königs und seiner Vertrauten, darunter den Vorreitern der polnischen Aufklärung und den Mitautoren der Verfassung – Hugo Kołłątaj und Stanisław Staszic. Letzterer soll Jahrzehnte später in einem Interview mit einem französischen Journalisten geäußert haben, dass der Demokratie eine solide Bildung vorangehen muss. Ihr Mangel sei der Grund gewesen, weshalb  den polnischen Bauern das Wahlrecht verwehrt worden war.

Der zweithäufigste Kritikpunkt an dem polnischen Grundgesetz vom 1791 stellt die Art und Weise seiner Verabschiedung dar. Wie ich bereits erwähnt habe, geschah diese auf demokratischer Basis. Das ist an sich richtig, doch wie gewöhnlich steckt der Teufel im Detail.

Über den Inhalt und die Form des Grundgesetzes debattierten 500 stimmberechtigte Abgeordnete. Sie diskutierten über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren. Bei seiner Verabschiedung waren jedoch nur 182 Abgeordnete zugegen, wovon lediglich 72, also die Minderheit, gegen das Dokument war. Der Rest, davon ein Großteil der Gegner, befand sich nämlich auf dem Weg nach Hause, häufig in die abgelegene Provinz, nachdem der Sprecher des Reichstags eine längere Sitzungspause über die Feiertage verordnete. Dieser Umstand war kein Zufall, sondern eine List des Königs und seiner progressiven Mitstreiter. Das kam letztlich einem Staatsstreich gleich. Die Anwesenheit des Militärs im Plenarsaal unter dem Kommando des Fürsten Poniatowski, einem Reformbefürworter, der später bei der Völkerschaft von Leipzig fiel, förderte diese Wertung. Auch die Gegenwart von vielen Vertretern des Bürgertums, welche zu den Reformhardlinern gehörten, tat ihr Übriges. Die 3. Mai-Verfassung wurde demnach illegal verabschiedet.

Immerhin wurde ihre Rechtsgültigkeit durch die Ratifizierung in den 78 regionalen Landtagen im Nachhinein bestätigt.

 

Finis Poloniae

Was brachte aber die Verfassung Konkretes? Wie beeinflusste sie das Leben der Menschen im Vielvölkerstaat Polen-Litauen? Diese Frage nach den praktischen Auswirkungen der Verfassung vom 3. Mai lässt sich aus einem gravierenden Grund nicht beantworten. Und zwar wegen der Teilungen Polens.

Die Vorgänge in Warschau sowie die zeitgleichen Ereignisse in Paris sorgten für zunehmende Besorgnis in den Nachbarländern Polen-Litauens. Die 3. Mai-Verfassung wurde insbesondere in Moskau, aber auch in Berlin, als gefährlich für die absolutistische Herrschaftsordnung angesehen. Für die Polen kam vor allem die Haltung Preußens sehr überraschend. Wenige Jahre zuvor sahen viele polnische politische Reformatoren in dem deutschen Staat eher einen potenziellen Verbündeten als eine Gefahr.

Preußen nahm zwar an der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 teil, war aber von einem aufgeklärten König regiert worden, von dem man sich Unterstützung oder zumindest wohlwollende Neutralität versprach. Und tatsächlich näherten sich beide Länder zunächst einander an und unterzeichneten 1790 sogar ein Beistandsabkommen. Polen kaufte zudem in Preußen viele Waffen an, die die Modernisierung der polnischen Streitkräfte vorantrieben. Und dennoch – ein Jahr nach der Verabschiedung des Grundgesetzes – überschritten die russischen Truppen die Grenze und markierten damit den Beginn des polnisch-russischen Krieges, bei dem Preußen zu Ungunsten Polens agierte.

Nach anfänglichen Erfolgen kapitulierten die polnischen Verbände am 24. Juli 1792 vor der russischen Übermacht. Der König sagte sich von der Verfassung los und ging ins Exil, so wie viele andere namhafte Polen. Es folgte die zweite Teilung des Landes auf die wiederum der Volksaufstand von Tadeusz Kościuszko erfolgte. Kościuszko, der sich einen Namen beim amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gemacht hat und nach dem der höchste Berg Australiens benannt ist, konnte jedoch Polen nicht retten.1795 teilten Russland und Preußen Polen zum letzten Mal untereinander auf und beraubten es für 123 Jahre seiner Staatlichkeit und damit auch der Verfassung.

 

Fazit

Aufgrund der Ereignisse, die unmittelbar auf die Verabschiedung und Ratifizierung der 3. Mai-Verfassung folgten, ist es schwierig, ihren gesellschaftlichen Impact zu bestimmen. Die Frage, ob sie tatsächlich die zahlreichen Probleme des Landes gelöst hätte, wird daher wohl für immer unbeantwortet bleiben.

Symbolisch gesehen ist ihre Bedeutung jedoch unbestritten. Sie war das letzte und schönste Aufblühen der polnischen Staatlichkeit vor der langen Nacht der Fremdherrschaft. Außerdem stellt sie ein Bespiel für die Ironie der Geschichte dar. Wie sonst ist die Situation zu bezeichnen, dass Polen gerade dann von der Landkarte Europas getilgt wurde, als es endlich einen Weg fand, sich über seine Misere zu erheben. Vermutlich jedenfalls.