Über die Polen in Deutschland

In meinem vorherigen Artikel ging es um die heimlichen Polen. So habe ich die beschriebenen Personen genannt. Verlinkt ist darin ein Beitrag von Alexandra Tobor, in dem die Autorin über die Polen in Deutschland sinniert. Ähnliches stellt auch Emilia Smechowski in ihren Publikationen an.

Beide Frauen sind anerkannte und vielfach ausgezeichnete Bestseller-Autorinnen, die mit ihrem literarischen Schaffen vielen Polinnen und Polen in Deutschland ein Gesicht und eine Identität (wieder-)gegeben haben. Das ist lobens- und äußerst begrüßenswert. Beide Frauen beleuchten diverse Aspekte des Ankommens in Deutschland. Sie fragen nach den Gründen der polnischen Assimilation in die bundesrepublikanische Gesellschaft. Beide Autorinnen führen zudem diesen Prozess auf die polnischen Minderwertigkeitskomplexe zurück. Beide bringen schließlich die Dankbarkeit ins Spiel, die viele polnische Zuwanderer, insbesondere in den 1980er Jahren, ihrem deutschen Aufnahmeland entgegenbrachten.

Emilia Smechowski stellt immerhin darauf fest, dass die im heutigen Polen lebenden (jungen) Menschen besagte Komplexe nicht mehr aufweisen. Und die Ursache hierfür liefert sie gleich mit: Nämlich die beispiellose wirtschaftliche Entwicklung Polens nach 1989. In meinen Augen eine zutreffende Diagnose. Aber fangen wir doch ganz von vorne an.

 

Vorurteile

Fällt Ihnen etwas ein, was Sie eindeutig mit Polen in Verbindung bringen? Irgendetwas? Ich könnte Sie an dieser Stelle auf ein paar Marken und Gerichte aufmerksam machen, die „made in Poland“ sind und die Sie durchaus aus ihrem Alltag kennen. Eine Tankstellenkette, ein paar Biersorten, Küchen-Elektrogeräte, Möbel, Züge, Busse sowie Schuh- und Spielzeugläden fallen mir spontan ein. Doch sie alle ändern tatsächlich nicht viel daran, dass Polen für die meisten Deutschen nach wie vor einer Terra incognita gleicht.

In meinen Augen sind es allerdings nicht nur die fehlenden „Brands“. Natürlich: Gäbe es solche, mit denen man Polen eindeutig assoziieren könnte, würde das Land in der deutschen Gedankenwelt ausdrucksvoller erscheinen. Es mag ja sein, dass eine bunte Matrjoschka oder ein leckeres Gericht wie Pasta das Ansehen des Landes günstig beeinflussen würde. Tatsächlich hat Polen versucht, diese Schiene zu fahren und hat eine Zeit lang den Storch als ein Symbol für die vergleichsweise unberührte Natur des Landes, promotet. Angesichts der Vielzahl dieser Vögel im Land und ihrer allgemeinen Beliebtheit, war diese Strategie sicherlich nicht verkehrt (siehe auch: https://www.deutsches-polen-institut.de/blog/begleiter-der-polnischen-sommerzeit/). Andererseits wage ich zu behaupten, dass es nicht an den fehlenden Marken lag und liegt, weshalb eine polnische Mutter (oder auch ein polnischer Papa) Hemmungen hat, ihr Kind auf einem deutschen Spielplatz auf Polnisch anzusprechen.

 

Identität

Natürlich ist die Frage nach der eigenen Identität ein individueller und fast schon tiefenpsychologischer Prozess. Seine gesellschaftliche Komponente, insbesondere die Fremdwahrnehmung, sollte man aber trotzdem nicht aus den Augen verlieren. Und zwar nicht nur in Hinsicht darauf, dass man dankbar ist, als Gleichgestellter in einem Land zu leben, das viele andere Menschen abweist: Das traf seinerzeit auf die Eltern von Emilia Smechowski zu. Das wäre ein positiver Beweggrund seine bisherige, in unserem Fall polnische Identität abzulegen und die der Aufnahmegesellschaft anzunehmen.

Wenn man sein bisheriges Sein verleugnet, spielen allerdings oft auch negative Gründe eine Rolle. In Deutschland der 1980er und 1990er Jahre waren es unter anderem die damals salonfähigen Polenwitze sowie Sendungen wie „Deutsche Welle Polen – in Farbe und bunt“. Die Stimmung, die sie erzeugten, motivierte, gelinde ausgedrückt, nicht unbedingt die polnischen Einwanderer dazu, sich zu ihrem Herkunftsland und zu ihrer Kultur zu bekennen.

Die Frage nach den Ursprüngen dieser Vorurteile und Klischees lasse ich an dieser Stelle offen und verweise stattdessen auf Publikationen namhafter Experten, die über das Thema besser und fundierter geschrieben haben (zum Beispiel https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/).  Ich möchte jedoch meinen, dass die besoffenen Bauarbeiter, die Frau Tobor in ihrem Text anführt (https://polen-pl.eu/made-in-poland/) oder die Autodiebe, die Deutschlands Straßen besonders nach der Wende unsicher gemacht hatten, wohl kaum die einzige Ursache dafür waren.

Abgesehen von den historischen Gründen waren es sicherlich auch die Gegensätze, die Deutschland und Polen vor über 30 Jahren tatsächlich kennzeichneten. Doch was damals häufig nicht schön und für viele Polen einschüchternd war, dennoch aber zutraf, ist heute in vielen Aspekten längst überholt. Leider nicht in den Köpfen. Und damit meine ich auch die Köpfe der Deutschpolen.

 

Wenn in einem Wald ein Baum umfällt, und keiner da ist der es hören könnte, gibt es dann ein Geräusch?

Kennen Sie das? Die Freunde und Bekannte, mit denen Sie zur Schule gingen, altern in Ihrer Erinnerung nicht. Sie bleiben ewig so, wie Sie sie zuletzt gesehen haben. Es sei denn, Sie laufen ihnen unerwartet über den Weg. Genau das ist mir am vergangenen Sonntag passiert, als ich einem alten Freund aus der Abizeit begegnet bin. Er hat sich so verändert, dass er erst die Sonnenbrille abnehmen musste, damit ich ihn erkannte. Und selbst dann musste er nachhelfen. Ich war höchst erfreut über das Wiedersehen, gleichzeitig aber auch peinlich berührt, ihn nicht gleich erkannt zu haben. Tauschen Sie nun meine Wenigkeit gegen die Deutschpolen ein und meinen Freund gegen Polen. Was kommt dabei heraus?

Jeder lebt das Polen, das er verlassen hat. Dieser Sachverhalt ist etwas, das mir immer wieder bei Begegnungen mit meinen Landsleuten auffällt. Ich könnte an dieser Stelle viele Beispiele nennen, bleibe aber bei einem einzigen, dafür aber sehr aussagekräftigen. Und zwar einer älteren Frau, die noch 2018 felsenfest davon überzeugt war, dass man in Polen keine Einkommensteuer zahlt. Sie ist 1981 ausgewandert und zum damaligen Zeitpunkt gab es so etwas wie Einkommensteuer tatsächlich noch nicht. Jedenfalls nicht ersichtlich. Der Staat – damals befand sich die gesamte polnische Wirtschaft im staatlichen Besitz – zahlte jedem Bürger monatlich einen bestimmten Betrag. Wieviel davon abgezogen wurde und wofür, war nicht zu erkennen. Es interessierte wahrscheinlich auch kaum jemanden, da Geld, im Gegensatz zu Lebensmittelmarken, angesichts der Inflation und der Lebensmittelknappheit keine große Rolle spielte. Die Frau hatte also nicht ganz Unrecht. Sie hat sich nur in der Zeit vertan. Genauer gesagt merkte sie nicht, dass diese in Polen keinesfalls stehengeblieben ist. Sie vergaß offensichtlich, dass die Welt sich auch ohne sie weiterdreht. Und dass dies auch für das Land jenseits der Oder gilt.

Dass dem so ist, bemerkt auch Emilia Smechowski in ihrem lesenswerten Beitrag „Ich bin wer, den du nicht siehst(https://taz.de/!868119/). Sie schreibt, dass das heutige Polen aufgrund der enormen wirtschaftlichen Entwicklung vielen Auswanderern ein Stück weit fremd geworden ist. Ich kann es in Bezug auf meine Heimatstadt bestätigen. Diese Veränderung ist schön – und doch, wie jede Veränderung, mutet sie auch ein wenig befremdlich an. Auch ich neige also dazu mit dem Polen zu leben, das ich verlassen habe.

 

Die von Tobor und Smechowski beschriebenen Länder und Gesellschaften gibt es nicht mehr

Als ich die Aufmachung des Buches „Sitzen vier Polen im Auto“ von Alexander Tobor las (Klappentext etwa bei buecher.de oder amazon.de (Amazon:Partnerlink)), staunte ich nicht schlecht. Dann fragte ich mich, ob es den deutschen Leserinnen und Lesern wirklich klar ist, dass das an sich sehr unterhaltsame Buch lediglich eine subjektive Momentaufnahme zweier Länder ist, die es in der Form schon lange nicht mehr gibt.

Die Polinnen und Polen fahren heute nicht mehr Polski Fiat, wundern sich keineswegs über Frauen (falls sie es überhaupt jemals taten), die freiwillig Hosen tragen und die Einkäufe in einem Supermarkt gehören schon seit 30 Jahren zu ihrem Alltag. Die einstigen „paradiesischen Zustände“, die sie in Deutschland zu sehen glaubten, sind längst rationalen Vergleichen gewichen. Heutzutage wundern sich auch keine polnischen Autofahrer*innen mehr, weshalb es in Deutschland so viele Orte gibt, die „Ausfahrt“ heißen. Vielmehr ärgern sie sich darüber, dass es an zahlreichen deutschen Parkplätzen entlang der Autobahnen keine Toiletten gibt. An polnischen Autobahnen ist so etwas undenkbar.

Die Minderwertigkeitskomplexe sind demnach verschwunden. Zumindest was die jungen Polinnen und Polen betrifft, die Deutschland eher als Touristen oder Studenten erleben. Wie sollte es auch anders sein, wenn man das beste Auto im Jahrgang fährt und in seiner Wohnung ein Bild hängen hat, das von den Aborigines stammt. Eine Kleinigkeit, die eine polnische Kommilitonin aus ihrem Australienurlaub mitgebracht hat. Fairnesshalber muss man sagen, dass natürlich nicht jede junge Polin in den Urlaub nach Australien fährt. Aber es ist an der Zeit zur Kenntnis zu nehmen, dass es Polen gibt, die sich so etwas leisten können und wollen und die ihr Selbstwertgefühl nicht unbedingt daraus beziehen, wie gut sie Deutsch sprechen. Denn Polen und Deutschland spielen vielleicht noch nicht in derselben Liga, aber sie betreiben eindeutig schon die gleiche Sportart. Das wirkt sich entsprechend auf das polnische Selbstbewusstsein aus.

 

Aus dem Freilichtmuseum

Bin ich enttäuscht, dass man Polen häufig noch so darstellt, als ob dort die Zeit stehen geblieben wäre? Ärgert mich etwa, dass man diesem konstruierten Freilichtmuseum ein idealisiertes Deutschland entgegenstellt? Nun, wenn ich ehrlich bin, ja, das tut es. Jedenfalls manchmal.

Doch dann schaue ich auf die Ukrainer und Weißrussen, die seit etwa zehn Jahren massenweise nach Polen einwandern. Sie tragen vergleichbare rosarote Brillen, wie einst die Polen, die nach Deutschland kamen. Sie wundern sich über die Sauberkeit und die Ordnung, die in polnischen Städten herrschen, freuen sich über zahme Enten und Schwäne in städtischen Gewässern sowie über die vielen Radwege (siehe etwa https://www.youtube.com/watch?v=NVy8wUCoVeo). Sie finden Polen lebens- und liebeswert und sind dankbar für die sozialen Leistungen, die sie vom polnischen Staat bekommen. So wie die Eltern von Emilia Smechowski sich damals über das deutsche Arbeitslosengeld gefreut hatten. Und genau wie sie, zahlen es die Ukrainer im Laufe der Zeit tausendfach durch ihre Steuern zurück.

Möglicherweise werden die ukrainischen Zuwanderer oder deren Nachkommen schon bald in Polen Ähnliches publizieren, wie derzeit Smechowski und Tobor in Deutschland. Und möglicherweise wird ein aufsässiger Blogschreiber sie und die polnische Aufnahmegesellschaft daran erinnern, dass das Polen und die Ukraine, die sie beschreiben, längst nicht mehr sind…