Ein subjektiver Rückblick auf die 1990er Jahre in Polen. Teil 2 – Jetzt erst recht!

Wieder einmal etwas leichtere Kost für zwischendurch. Nachdem wir uns im ersten Teil meines persönlichen Rückblicks auf die 1990er Jahre mit Zombies und den 8-bit Kriegen auseinandergesetzt haben, ist es höchste Zeit das Tanzbein ein wenig zu schwingen. Und sollten wir dabei müde werden, wird uns salziges Popcorn wieder Kraft einflößen. Wir schauen auch in der Kirche und bei den Außerirdischen vorbei. Sind Sie dabei?

Eurodance und das erste (und letzte) Sommercamp

Viele Sommer haben für mich einen eigenen Soundtrack. Der Sommer 1996 beispielsweise den allseits bekannten Macarena-Song, den ich mir praktisch jeden Tag, meiner kleinen Tochter zuliebe, auf dem Weg in die Kita anhören muss.

Doch wenn man einen Soundtrack für ein ganzes Jahrzehnt sucht, wird man im Falle der 90er im Eurodance fündig. Besonders die erste Hälfte hatte in Polen eindeutig den Klang von Snap, 2Unlimited, Dr. Alban und Co. Doch nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich ist der Eurodance für mich eingrenzbar. Und zwar auf die Stadt Swinemünde, auf der polnischen Seite der Insel Usedom.

1994 wurde sie nämlich sehr wichtig für mich, und ich hege immer noch eine gehörige Portion Sympathie für sie. Nicht nur, weil sie sehr schön und einzigartig gelegen ist, sondern weil sie zum Schauplatz meines ersten und letzten Sommercamps wurde.

Ich erinnere mich an die ellenlange Fahrt dorthin, über die holprigen Straßen Niederschlesiens und des Lebuser Landes, die mittlerweile der zweispurigen S3 gewichen sind. Ich erinnere mich an das Zimmer, das ich mit zwei weiteren Jugendlichen aus meiner Nachbarschaft teilte. Und ich entsinne mich der Aussicht. Denn wie es sich nach dem Kofferauspacken herausstellte, hatten wir zufällig das einzige Zimmer in der Pension „Bursztyn“ {burschtin} erwischt, welches ansatzweise einen Meeresblick bot. Die Besuche seitens unserer Nachbarn wurden aus diesem Grunde irgendwann so häufig (und lästig), dass ich und die anderen beiden Jungs kurz überlegten, Eintritt zu erheben. Als Zimmerältester entschied ich mich schließlich dagegen. Nicht so sehr aus moralischen Gründen, sondern weil ich durch den Handel mit Äpfeln, Birnen und der Messdienerschaft (siehe unten) bereits zu einem bescheidenen Wohlstand gelangt war.

Wir waren zwei Wochen dort . Und zwei Mal die Woche gab es eine Disco. Sie können sich natürlich schon vorstellen was dort gespielt wurde. Und zwar ausschließlich! Aus dem Nebel der Erinnerungen steigt immer wieder dieses Lied in mir empor. Und jedes Mal versetzt es mich zurück nach Swinemünde des Jahres 1994. So wie jetzt gerade auch…

Mitte der 90er nahm der Eurodance-Hype ab. Zwar hieß das erste Lied, das ich in meine Haarbürste gesungen habe noch “What Is Love” von Haddaway. Doch meine erste Liebelei bekam, trotz einiger Nachzügler wie den Hits von Mr. President, bereits den Soundtrack von den Backstreet Boys. Mein Musikgeschmack folgte den Trends und ich landete über Roxette, Scatman John und Brian Adams sowie dem polnischen Hip Hop, der ein paar Jahre früher als sein deutsches Pendant aufkam, unter anderem bei den Limp Bizkits. Mit großem Stolz und kindlicher Freude erfüllte ich mir meinen spätneunziger Traum und war 2015 sogar auf deren Konzert (ein Brian Adams-Konzert hatte ich indes bereits 2003 abgehakt).

Ganz gleich, wie es mit mir musikalisch weiter ging, die Hits des Eurodance von damals begleiten mich auch heute noch – und zwar nicht nur auf dem Weg zur Kita. So hätte ich, als ich damals auf meinem Sanyo-Walkman die 90´s Dance Hits in Endlosschleife hörte, nie gedacht, dass ich in der Zukunft immer wieder mal an jenem Café auf dem Darmstädter Luisenplatz vorbeilaufen werde, in dem einige dieser Hits geschrieben wurden. Darunter die Evergreens Mr. Vain und More And More.

Hot Dogs, salziges Popcorn und (nicht immer großes) Kino

Im Großen und Ganzen war die VHS-Revolution dem Kino das, was später die Streaming-Dienste den Videoverleihen sein sollten – der Tod.
Das Lichtspielhaus „Capitol“ in Kudowa bildete da keine Ausnahme und litt schwer unter den Videokassetten mit schlechten Filmkopien aus Deutschland (auch die meisten im Besitz meiner Familie befindlichen, grottenschlecht synchronisierten Filme stammten aus der Bundesrepublik). Nichtsdestotrotz schaffte es das Kino, mir bis zu meinem Umzug nach Bielefeld viele schöne Erlebnisse zu bescheren. Und mindestens eines, welches mir bis heute Schwierigkeiten bei der Einordnung bereitet.

Es muss wohl September 1995 gewesen sein, als ich mich nach der Schule mit ein paar Freunden verabredete. Wir wollten gemeinsam Bad Boys gucken, einen Film, den ich auf den Werbeplakaten in der Stadt gesehen haben wollte. Um 17 Uhr sollte es losgehen. Ich traf allerdings erst um 17. 15 Uhr am Kino ein. Verspätet stürmte ich an die Kasse und wunderte mich kein bisschen darüber, dass keiner meiner Freunde auf mich wartete. Schließlich war ich ja zu spät – sogar für meine Verhältnisse (Pünktlichkeit gehörte nicht unbedingt zu meinen ansonsten zahlreichen Vorzügen). Im Nachhinein betrachtet hätte mich die Reaktion der Frau an dem Ticketschalter ein wenig stutzig machen sollen. Diese wunderte sich unverhüllt über meinen Eintrittswunsch und fragte sogar zweimal nach, ob ich mir denn dessen sicher sei. Ich war es und sie gab klein bei. Es waren schließlich die 90er. Vieles war anders und noch viel mehr möglich!

Mit einer Tüte salzigem Popcorn (in Polen ist das Kinopopcorn immer salzig) betrat ich also den einzigen Kinosaal. Zu meiner Verwunderung war dieser ziemlich leer. Dies war insofern verwunderlich, weil ja die halbe Stadt auf den Streifen mit Will Smith und seinem Sidekick Martin Lawrence „heiß“ war (so haben wir in den 90ern geredet, gewöhnt Euch daran). Nach kurzem Einspiel über kommende Filme hat sich schließlich alles geklärt. Der Film in dem ich saß war keineswegs „Bad Boys – Harte Jungs“, sondern Prêt-à-Porter. Ein, wie ich circa 20 Jahre später herausfinden sollte, recht unterhaltsamer Streifen über die Welt der Pariser Mode… Da haben meine Freunde aber was verpasst.

Das Kino „Capitol“ schloss vor wenigen Jahren seine Pforten und wurde kurz darauf als ein „Kinderparadies“ wiedergeboren. Es hat die VHS-Revolution und das Internet überdauert. Aber es konnte auf lange Sicht bei den gerade mal 10.000 Einwohnern von Kudowa mit den Streaming-Diensten doch nicht konkurrieren. Es gab einen gebührenden Abschied, einen Filmmarathon, bei dem die Gäste die gezeigten Filme selber wählen durften. Man hat sich erwartungsgemäß für echte, wenngleich leicht bekömmliche Klassiker entschieden. Ich bedaure bis heute, dass ich nicht dabei sein konnte.

Messdienerschaft

Diese Erfahrung Teile ich wohl mit vielen polnischen Millennials. Sehr vielen. Und dennoch möchte ich behaupten, dass sie mich zeitgleich von vielen unterscheidet. Der Grund dafür liegt am Geld. Geld, das wir für unsere Mühe von dem Pfarrer bekommen haben. Zum einen wollte er auf diese Weise mehr Messdiener vor allem für die unliebsamen Wochentagsmessen begeistern (jeder Ministrant musste außer bei einem Gottesdienst am Sonntag zusätzlich bei zwei weiteren unter der Woche dienen). Zum anderen empfand er es nur als gerecht, dass wir für unsere Dienste Geld bekommen, wo er doch ebenfalls für die seinen entlohnt wurde.
Ich freute mich über diese unverhoffte Aufstockung meines unter der Comic-Sucht leidenden Taschengeldes. Ich freute mich aber auch deshalb, weil ich dadurch dem Schicksal einiger meiner Freunde entging, die keine Messdiener waren und ihr Taschengeld (und manchmal auch das Haushaltsgeld ihrer Eltern) mit dem Putzen von Autoscheiben an dem Grenzübergang zur Tschechischen Republik aufpeppen mussten.

5.000 Złoty (heute 50 Groschen, also in etwa 12 Cent) gab es jedenfalls für eine Messe, was damals immerhin eine Tüte Flips einbrachte. Ich erinnere mich, dass ich mir jeden Donnerstag direkt nach “meinem” Gottesdienst eine geholt habe, um sie dann am nächsten Tag beim Twin Peaks gucken genüsslich aufzumampfen. Bis heute habe ich einen Erdnussgeschmack im Mund, wenn ich an die Serie denke. Und bis heute fürchte ich mich, dass meine Eltern herausfinden, dass ich Twin Peaks geguckt habe! Davor und auch ein bisschen vor Bob. Wer die Serie geguckt hat, weiß Bescheid…

Die Simpsons, Baywatch und Akte X

Twin Peaks war allerdings nur der Auftakt zu einem Jahrzehnt voller TV-Ereignisse.
Was „Mystery-Serien“ anbelangt, sollte sich der unangefochtene König des Jahrzehnts ohnehin erst noch offenbaren. In meinem Fall offenbarte er sich an einem Montagabend. Oder Dienstagabend, ich weiß es leider nicht mehr genau. Ich „zappte“ durch die vier polnischen Sender, die es damals gab und die drei tschechischen, die wir ebenfalls empfangen konnten.

Dabei wurde ich plötzlich auf ein Musikstück aufmerksam, das mich noch über viele Jahre hinweg begleiten sollte. Es handelte sich natürlich um die Titelmusik zur Akte X von Mark Snow. Mal ehrlich, Hand hoch wer bei diesem Meisterstück keine Gänsehaut bekommt!

Ja, ja, schon gut. Sie können Ihre Hände runternehmen. Ich glaub es Ihnen ja doch nicht!

Nun, auch wenn die Welt der Monster, Außerirdischen und diversen Verschwörungstheorien mich durchaus hineinsog und sich darüber hinaus mit meinem Hang zur Astronomie wunderbar kombinieren ließ (mein erstes Teleskop – natürlich in Breslau gekauft, wo sonst – bekam ich im Frühjahr 1996), habe ich zusammen mit Millionen von Polen selbstredend auch noch andere Serien geschaut. Ausgerechnet Alaska, die Cosby-Show, Full House und Baywatch gehörten ebenso dazu wie die Zeichentrickfilme Captain Planet, Teenage Mutant Ninja Turtles und Disneys Gummibärenbande, die für eine immer wieder gerne von mir erzählte Begebenheit gesorgt hat, welche ich auch Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten möchte.

Unweit meiner Schule machte sich der aufkeimende Bauboom in Form eines neuen Wohnhauses bemerkbar. Wie jede Baustelle, strahlte auch diese eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich und einige andere Jungs mit blühender Fantasie aus. Nachdem ich mich bereits mit einem Kumpel Artur als Goldgräber auf dem „Parkberg“ bewiesen habe (wir haben einige glänzende Feuersteine gefunden), beschlossen wir auf der besagten Baustelle nach dem berühmten Zauberbuch der Gummibären zu suchen. Und wenn Sie sich jetzt schön wundern, versichere ich Ihnen, dass ihre Verwunderung kaum an jene des Bauherren heranreicht, der uns bei dem Versuch ertappt hat.

Die Gummibärenbande war cool und beflügelte die Fantasie, doch wenn ich an einen Zeichentrick aus den 90ern denke, dann denke ich, wie 99% der Menschheit vermutlich auch, an die Simpsons. Die verrückten und lustigen Abenteuer der schrillen Springfield-Familie schaute ich auch noch lange Zeit in Deutschland, wo ich dank eines Privatsenders keine ganze Woche auf eine Folge warten musste, sondern gleich zwei Folgen an einem Tag bekam. Das übrigens galt für so viele Sachen nach meinem Umzug in die Bundesrepublik. Denn vieles war gar nicht so sehr anders als in Polen. Aber von vielem gab es deutlich mehr.
Die Simpsons beeinflussten mich und meinen Sinn für Humor nachhaltig. Zudem fürchte ich, übten sie großen Einfluss auf meinen deutschen Wortschatz aus. Augenblick, habe ich das etwa wirklich geschrieben…? Nein!

Neben vielen ausländischen Serien schaute ich natürlich auch einige polnische, von denen mir eine ganz besonders in Erinnerung geblieben ist. Sie hieß Ekstradycja {extradizia}, handelte von den Ermittlungen des Warschauer Kommissars Halski und entsprach sowohl hinsichtlich der Storyline als auch der Popularität dem deutschen Tatort. Um dies gewissermaßen zu unterstreichen gab es 1996 sogar einen Crossover. Die Reise in den Tod lautete der Titel der gemeinsamen Folge. Meiner ersten und auch letzten, die ich je von Tatort in Gänze geguckt habe.

Die olympischen Spiele in Atlanta und das Ende meiner polnischen 90er

Zwei Abschiedsgeschenke bekam ich von meiner Schulklasse bevor es Richtung Deutschland ging. Ein Geschichtsbuch „Polen und die Welt im 20. Jahrhundert“ mit vielen Einträgen und persönlichen Widmungen meiner Klassenkameraden (darunter „Akte X“ und „NBA“) sowie einen lebensgroßen Rosaroten Panther (in Deutschland auch als „Paulchen“ bekannt), den ich auf den Namen Atlanta taufte. 1996, Atlanta, das erschließt sich von selbst, oder?

Ich feuerte die Weiß-Roten bei den Olympischen Spielen an (bitte, Ihr lieben Deutschen, merkt es Euch endlich – in Bezug auf polnische Sportler*innen heißt es immerzu die Weiß-Roten, nicht die Rot-Weißen!), die diesen Sommer mit 17 Medaillen das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte des demokratischen Polens einfuhren. Ich tat das und fragte mich bisweilen, wen ich denn bei den nächsten olympischen Spielen anfeuern werde. Die Polen oder die Deutschen?

Meine polnischen 90er endeten im August 1996 mit der Ausreise nach Deutschland. Im selben Jahr verschwanden meine Lieblingscomputerzeitschrift und kurz darauf auch die Marvel und DC-Comics vom polnischen Markt. Ein denkwürdiger Zufall. Während die letztgenannten keine Fortsetzung mehr fanden, gingen meine 90er kurz nach dem Abi im Jahre 2002 für zwei verrückte Monate in die unverhoffte Verlängerung.
Aber diese Geschickte steht schon auf einem anderen Blatt.

Epilog

Um ehrlich zu sein weiß ich gar nicht, wie viele deutsche Milliennials unseren Blog lesen. Die, die es tun, wissen nun, dass das Aufwachsen in Polen der 1990er Jahre weit weniger exotisch war, als manch einer hierzulande es zu glauben vermag. Oft wird im Westen davon ausgegangen, dass Polen erst mit dem EU-Beitritt wirklich europäisch wurde. Ich habe dies unmittelbar zu spüren bekommen, als ich mich 1996 erklären musste, wieso ich Billard spielen kann und warum ich denn eigentlich einen Game Boy besitze, wo ich doch aus Polen bin. Und falls Sie dies für einen Ausdruck meiner künstlerischen Freiheit halten, muss ich Sie leider enttäuschen.

Doch die Zeiten ändern sich.

Die Erlebnisse bleiben.

Nostalgie ist ein sonderbares Gefühl. Es macht uns glücklich und traurig zugleich. Finden Sie nicht auch?