Krieg in der Ukraine, Polens Rolle: Andere Länder, andere Sitten

Seit einem Monat schon tobt der Krieg in Europa. Tausende von Ukrainerinnen und Ukrainern wehren heldenhaft und unter enormen menschlichen und materiellen Verlusten die russische Invasion auf ihr Land ab. Millionen von ihnen befinden sich auf der Flucht. Die meisten finden Zuflucht in Polen.

Wie meistert Polen diese Aufgabe eigentlich? Wie kommt es mit dieser epochalen Herausforderung zurecht? Dieser Frage möchte ich im vorliegenden Beitrag nachgehen.

Im Folgenden lesen sie eine um Objektivität schwerlich bemühte Zusammenstellung von Fakten. Nicht mehr und nicht weniger. Welche Schlüsse Sie als Leserin oder Leser daraus in Bezug auf Polen und Deutschland sowie andere, in den Krieg ebenfalls involvierte Staaten ziehen, bleibt Ihnen überlassen.

Im Vorfeld des Krieges

Mehr als eine Woche, bevor der erste Schuss gefallen ist, bereitete sich Polen auf die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen vor. Man hoffe auf das Beste, wolle sich aber auf das Schlimmste vorbereiten, hieß es seitens der Zentralregierung in Warschau.

Bereits am 14. Februar erhielten die Woiwoden, also die Regierungsvertreter in den 16 großen Verwaltungsbezirken in die Polen, ähnlich wie die Bundesrepublik, eingeteilt ist, eine Anweisung. Sie sollten ihre Regionen auf den Zustrom von Geflüchteten vorbereiten. Mit der direkten Umsetzung dieser Aufgabe wurden die selbstverwalteten Kommunen und Städte betraut. Kapazitäten wurden geschaffen und erweitert. Kurz darauf meldeten die ersten Städte, darunter Krakau, Breslau, Lublin und Danzig, ihre Bereitschaft. Doch nicht nur die Metropolen zeigten sich handlungsfähig und entschlussfreudig. Auch kleinere Gemeinden, wie beispielsweise Ostrowiec Świętokrzyski {ostrowiäts swiäntokschiski} mit seinen 71.000 Einwohnern, meldete die Bereitschaft, 3.000 Schutzsuchende in ihrem Landkreis aufzunehmen.

Ein Krieg bricht aus

Kurz nach dem Ausbruch des Krieges erreichten die ersten Züge aus Kiew und anderen ukrainischen Städten Warschau. Warschau beherbergt heute mehr ukrainische Flüchtlinge als ganz Deutschland.

Die polnische Gastfreundschaft und das Motto vieler polnischer Familien „Gast daheim, Gott daheim“ machten und machen ihrem Ruf alle Ehre. Polen als Staat und als Gesellschaft zeigte sich vom ersten Tag an von seiner besten Seite – und tun es weiterhin. Während einige Polinnen und Polen bis zu 14 Geflüchteten Schutz und ein Stück Normalität bieten, stellt sogar der Staatspräsident Duda seine Dienstvillen den Ukrainern zur Verfügung. Es gibt kaum einen Promi in Polen, der dem Beispiel des Präsidenten nicht gefolgt wäre. Die angesagtesten Schauspieler*innen und Künstler*innen des Landes wohnen nun mit Müttern und Kindern aus der Ukraine unter einem Dach zusammen.

Ukraine-Hilfe in Polen: Koffer und Hilfsmittel in einem Raum mit Treppe. Foto: Jennifer Billowie
Hilfe für Flüchtende aus der Ukraine in Polen. Foto: Jennifer Billowie

Der Staat ist da

Doch Privatinitiativen würden nicht reichen. Selbst der beste Wille und die grenzenloseste Solidarität der Einzelnen könnten weder die Mägen der Schutzsuchenden dauerhaft füllen, noch deren Kinder einschulen lassen. Hier muss der Staat tätig werden. Und der polnische Staat wurde tätig.

2015 erlebte Deutschland eine ähnliche „humanitäre Krise“. Zu dieser Zeit kamen innerhalb einiger Monate knapp eine Million Menschen in die Bundesrepublik.

In Polen sind es über zwei Millionen, darunter knapp eine Million Kinder. Nicht innerhalb von Monaten sondern in den letzten drei Wochen. Sie brauchen nicht nur Obdach sondern auch eine Perspektive – sowohl schulisch als auch beruflich.

Mindestens 50.000 Menschen pro Tag erreichen tagtäglich viele polnische Orte. Nicht nur sie, sondern auch die Hilfswilligen, die zum Beispiel Unterkunft anbieten, werden von den polnischen Behörden lückenlos erfasst. Diese „glänzende Organisation“, die Friedrich Merz dem polnischen Staat bescheinigt, ermöglichte den nächsten Schritt. Nämlich die Aufnahme aller ukrainischen Geflüchteten in das polnische Sozialversicherungssystem. Dies ist seit dem 19. März möglich und gewährleistet allen Betreffenden den Zugang zum Arbeitsmarkt, dem Schul- und Gesundheitswesen sowie den Sozialleistungen des Staates.

Doch auch Privatpersonen, die nach wie vor die Hauptlast tragen, werden unterstützt. Seit dem 16. März können sie finanzielle Hilfe bei der Unterbringung von ukrainischen Flüchtlingen beantragen. Den Aufnahmepersonen stehen ca. 10 Euro pro Tag pro Flüchtling zu. 60 Tage lang.

Weitere Entlastungen

Krieg bringt immer das Schlimmste in den Menschen hervor. Und das Beste.

Damit das Beste nicht mit der ersten Euphorie vergeht, braucht es Durchhaltevermögen. Einen langen Atem, der auch den horrenden Energiepreisen standhalten kann. Zu diesem Zweck hat der polnische Staat zu den bereits bestehenden Entlastungen weitere Maßnahmen beschlossen, welche die Energie-, darunter insbesondere die Treibstoffpreise, im zumutbaren Preisrahmen halten sollen. Auch die Einkommenssteuern sollen für die Mittelschicht von 17 auf 12 Prozent gesenkt werden. Der Jahresgrundfreibetrag wird indes auf 30.000 Złoty {suoti} erhöht. Das ist in Relation zu sehen: Zu einem Medianeinkommen von 3.000 Złoty netto im Monat.

All das geschieht ohne nennenswerte Unterstützung seitens der Europäischen Union. Polen stemmt die Folgen des Ukrainekrieges mit Würde und Effizienz. Und in stiller Einsamkeit. Jedenfalls vorerst. Am Mittwoch beschloss die Europäische Kommission angesichts der anschwellenden Flüchtlingskrise Fördermittel in Höhe von 3,4 Milliarden Euro bereitzustellen. Das Geld soll auf Polen, Rumänien, die Slowakei und Ungarn verteilt werden. Bald. Demnächst. Zeitnah. Der Krieg und seine Folgen gehen indessen in die fünfte Woche.

Vertreter einiger polnischer Branchen, die von der Flüchtlingskrise besonders betroffen sind, schlagen Alarm. Der polnische Wohnungsmarkt beispielsweise ist gerade dabei zusammenzubrechen. Die Nachfrage nach Mietwohnungen ist in Städten wie Warschau oder Krakau um bis zu 700(!) Prozent im Vergleich zu Mitte Februar gestiegen. Das Angebot hingegen ist selbst in kleineren Städten wie Grünberg um 70 Prozent gesunken.

Energieunabhängigkeit

In dem andauernden Krieg spielt die Energiefrage eine zentrale Rolle. Je nach dem Grad der Abhängigkeit von russischen Rohstoffen, wirkt sie sich lähmend auf den Handlungsspielraum der Regierungen in den einzelnen EU-Ländern aus. Deutschland, das jahrzehntelang entgegen allen Widrigkeiten, moralischen Bedenken und Protesten aus dem Ausland – zuvorderst aus Polen, auf russisches Gas setzte, hat dabei die denkbar schlechtesten Karten. Eine Lösung muss her. Schnell und nachhaltig. Vor allem aber schnell.

Es ist bezeichnend, dass Bundeskanzler Scholz sowie einige Vertreter der deutschen Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang die westeuropäischen LNG-Terminals anvisieren und  beispielsweise von Griechenland, als einer möglichen Anlaufadresse für die Containerschiffe mit dem Flüssiggas, sprechen.

Dabei befindet sich gerade einmal 230 Kilometer von Berlin entfernt, direkt an der deutsch-polnischen Grenze ein LNG-Terminal, der problemlos Gas in die Bundesrepublik liefern könnte. Und das schon seit 2015.

Polen könnte grundsätzlich demnächst zu einem zuverlässigen Gas-Lieferanten für Deutschland werden. Im Oktober des laufenden Jahres soll die polnische Baltic Pipe fertiggestellt werden, die über Dänemark norwegisches Gas liefern soll. Nach der Fertigstellung der seit 2008 geplanten Pipeline wird Polen vom russischen Gas vollkommen unabhängig werden und könnte seine Überschüsse an Nachbarländer verkaufen. Diese würden den gesamten Bedarf der Bundesrepublik selbstredend nicht decken, aber sie wären ein solider und buchstäblich naheliegender Anfang.

Militär

Die russische Invasion auf die Ukraine hat vielen vor Augen geführt, dass man bereit sein muss, seine Freiheit im wahrsten Sinne des Wortes zu verteidigen. Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund einen Fonds angekündigt, der eine funktionsfähige, d.h. wehrhafte Bundeswehr ermöglichen soll. Nach dem aktuellen Stand der Dinge seien die deutschen Streitkräfte nämlich nicht in der Lage Land und Leute zu beschützen.

In Bezug auf das Militär und seine gesellschaftspolitische Relevanz gab es schon immer große Differenzen zwischen Deutschland und Polen. Die Bundesrepublik argumentierte hierbei immerzu historisch. Die Polnische Republik ebenfalls. Unterschiedliche historische Erfahrungen brachten unterschiedliches Selbstverständnis hervor.

Die Regierung in Warschau hat schon in Oktober und Januar den Kauf von 250 modernsten Abrams-Kampfpanzern sowie 32 Kampfjets vom Typ F-35 finalisiert. Sie werden die bereits bestehenden Leopard 2 und F-16 Kampfverbände der polnischen Armee schlagkräftig ergänzen. Die Bundesregierung plant nun in puncto Kampfjets es den Polen gleichzutun. Die Luftwaffe soll demnächst ebenfalls um F-35 Flugzeuge bereichert werden, um ihren Verteidigungsaufgaben nachkommen zu können. „Schiffe, die in See stechen und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind“ sollen folgen. Deutschland soll nunmehr das Finanzierungskriterium der NATO erfüllen und mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Aus- und Aufrüstung seiner Streitkräfte verwenden. Polen sieht schon seit Jahren mehr als 2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für denselben Zweck vor. Aus diesem Grunde ist das Land in der Lage, quantitativ und qualitativ mehr Waffen an die Ukraine zu liefern als Deutschland.

Fazit

Ich möchte mir zum Schluss doch noch einen eindeutig subjektiven Kommentar erlauben. Die vom Bundeskanzler Scholz verkündete Zeitenwende lässt schließlich auch mich nicht kalt. Erst recht nicht, nachdem dieser Krieg eine persönliche Komponente für mich enthält. Umso mehr komme ich nicht umhin zu bemerken, dass der russische Überfall auf die Ukraine in Deutschland und in Polen teilweise ganz andere Züge trägt. Nicht zuletzt aufgrund der diametral unterschiedlichen Lastenverteilung zwischen den beiden Ländern.

Stellvertretend für die Polen möchte ich wie Angela Merkel im Jahre 2015 bekunden: „Wir schaffen das!“. Ein Gedanke schießt mir jedoch unmittelbar danach durch den Kopf, der da lautet: „Mag ja sein, aber wie lange noch?“.