Die 1990er Jahre in Polen. Subjektiv.

Leichte Kost für zwischendurch. Ein subjektiver Rückblick auf die 1990er Jahre in Polen. Teil 1.

Meine Eltern, wie die meisten Polinnen und Polen, hatten in den 1990er Jahren mit den Folgen der Transformation sozialistischer Plan- in die freie Marktwirtschaft zu kämpfen. Mich trieben in den polnischen Neunzigern ganz andere Sachen um. Einige davon haben mich bis heute nicht losgelassen. Davon möchte ich berichten. Bestimmt erkennen andere Beteiligte dieser polnischen Generation einiges wieder. Und Beobachter könnten sich wundern.

C-64 & Top Secret

Meine 90er begannen im Grunde erst 1992. Im selben Jahr ging ich nämlich zur Kommunion. Ein wichtiger Schritt im Leben eines jungen Katholiken. Doch meine Erinnerungen an dieses Ereignis haben wenig sakralen Hintergrund. Sie sind in der Tat ganz schön profan. Schuld daran ist meine Patentante, die damals in Bayern wohnhaft war. Sie machte mir zu diesem erhabenen Anlass ein nicht minder erhabenes Geschenk – einen Commodore 64-Heimcomputer!

Doch der C64 war viel mehr als bloß ein Computer. Er war identitätsstiftend, und zwar in Abgrenzung zu den Besitzern anderer Rechner. Insbesondere zu den „Atarowcy“ {atarowzi}, denn Anfang der 90er waren in Polen neben dem C64 auch die Atari 8-bit Maschinen hoch im Kurs. Zwei meiner Schulfreunde hatten einen (65 und 130 XE). Und während wir uns offiziell kaum die Hand zur Begrüßung reichten, zockten wir heimlich nach dem Schulschluss, immer die Häuser wechselnd, zusammen. Natürlich unter Einhaltung gewisser Animositäten („Jungs, das ist ein Atari, hört auf zu atmen, sonst lädt das Spiel nicht!“). In der Tat erinnere ich mich bis heute an ein paar wenig schmeichelhafte Spottgedichte über die Atari-User. Und an den Namen des Jungen, der die Redaktion der Zeitschrift ‘Top Secret’ mit Drohbriefen überschüttete, weil diese in seinen Augen zu wenige Spielrezensionen für den 65 XE veröffentliche.

Apropos Top Secret. Mit der „Seifenschachtel“, wie der C64 in Polen liebevoll(?) genannt wurde, öffnete sich für mich eine völlig neue Welt. Ein wichtiger Bestandteil dieses Neulandes waren die Computerzeitschriften, die in der III. Polnischen Republik Anfang der 90er Jahre wie Pilze aus dem Boden sprießten. Ich probierte einige von ihnen aus und blieb an einer hängen – dem „Magazin der Fans von Computerspielen Top Secret“.
Top Secret, lässig TS abgekürzt, war allerdings nicht nur eine Computer-Zeitschrift, sondern ein sozio-kulturelles Phänomen, welches meine Generation nachhaltig prägte. Der beste Beweis dafür lag sogleich auf der Hand. Man las auch Rezensionen für Systeme, die man gar nicht besaß. Es ging dabei nicht um die Bewertung eines Spiels, sondern vielmehr um die Sprache und die verrückten eingebauten Storylines, die sich durch sämtliche Artikel der Ausgabe hindurchzogen. Top Secret Leser*innen bildeten eine Gemeinschaft, der bis heute noch nachgetrauert wird.
Ich kreuzte in der Zeitschrift Spiele an, die ich haben wollte, falls ich ein Diskettenlaufwerk für meinen C64 bekäme. Und dann auch noch andere – viel buntere und coolere, nur für den undenkbaren Fall, ich würde durch irgendein Wunder in den Besitz eines Amigas geraten. Und plötzlich, im November 1993, war es dann soweit. Von meiner Mutter mit dem mühsam zusammengesparten Vielfachen ihres Monatsgehalts ausgestattet, brachte mir ein Freund der Familie direkt von der Breslauer Computerbörse einen Amiga 600 mit. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir an diesem Tag zu seinem Haus liefen um nachzugucken, ob er denn schon zurück war. Und jedes Mal durften wir, wie man es in Polen so schön sagt, die Türklinke küssen. Doch irgendwann am späten Abend klappte es. Schon von der Straße aus konnten wir sehen, dass in den Fenstern seiner Wohnung ein helles Licht brannte. Klingt das zu pathetisch wenn ich schreibe, dass in diesem Moment auch in meinem Herzen ein helles Licht aufging?
Jedenfalls wurde mir an diesem kalten Tag neben einer echten Traummaschine eine wichtige Erkenntnis zuteil. Nämlich dass Träume in Erfüllung gehen können.

Amiga – meine wahre Liebe (sorry, Schatz!)

Während der C-64 zwar ein wichtiges, aber letztlich doch nur ein erstes Geplänkel in der digitalen Welt meiner 90er wurde, obliegt meine uneingeschränkte und bis dato fortwährende Liebe einer anderen Wundermaschine – dem Commodore Amiga 600.
Dieser bescherte mir nicht nur fantastische Grafik, unglaublichen Sound und jede Menge brillante Spiele, sondern auch stets ein volles Haus.
Falls Sie sich mal gefragt haben, wie viele Polen in ein 10 qm großes Zimmer hinein passen, erfahren Sie hier prompt die Antwort. Sie lautet 15. Es passen 15 pubertierende Polen in ein 10 qm großes Zimmer hinein. Jedenfalls wenn Street Fighter II auf dem Spielplan stand. Oder Mortal Kombat.

Meine „Freundin“, wie Amiga übersetzt heißt, stiftete noch mehr Zusammengehörigkeitsgefühl als der C64. Diesmal in Abgrenzung zu den PC-Usern. Sie gewährte mir zudem den Zugang zu der legendären Amiga-Demo-Scene und den kultigen Copy-Partys, die im gewissen Sinne mehr zur europäischen Integration beigetragen haben als so manches internationales Abkommen. Jungs (sorry, Mädels, es waren wirklich nur Jungs) aus Polen, Schweden, Deutschland und Dänemark kamen dank des Amigas häufig das erste Mal zusammen. Sie spielten gemeinsam Spiele, programmierten ihre ersten Programme und kopierten natürlich illegal alles, was sie in die Hände bekamen. Ich war damals noch zu jung um all das wirklich zu begreifen. Aber ich versuchte, wie ein Schwamm alles aufzusaugen, wenn mein älterer Cousin Rafał {rafau} mich zu seinen nerdigen Kumpels mitnahm. Alles bis auf den Zigarettenrauch, der manchmal die Räume füllte – den versuchte ich eher zu meiden.
Die Zugehörigkeit zum Amiga-Clan sorgt auch heute noch für eine Identität über alle erdenklichen Grenzen hinweg.
Ich bedauere zutiefst, dass ich diese Worte auf einem seelenlosen PC abtippe.

Comics

Der September 1992 war ein wichtiger Monat für mich. Auf dem Rückweg von der Schule beschloss ich, das Geld aus meinem soeben inflationsbedingt aufgelösten Schülersparbuch für ein Comic-Buch auszugeben. Die Zeit war reif, fand ich. Jeden Tag lief ich auf dem Schulweg an einem Kiosk vorbei und sah im Schaufenster bunte Bilderbücher, die allesamt englische Namen trugen. Neben Batman und den gerade erschienenen X-Men waren da auch noch Superman, den ich bereits aus den Filmen mit Christopher Reeve kannte und dann noch jemand anders. Ein Typ in einem blau-roten Kostüm mit großen, weißen Augen, der sich wie eine Spinne an diversen Fäden durch die Straßen von New York schwang. Im September bekam er auf dem Cover Besuch von einem schwarzgekleideten Mann mit einem Totenschädel auf dem Trikot und einer gewaltigen Knarre in der rechten Hand. Knarren, Totenschädel und Superhelden? Das musste einen Jungen ansprechen. Und das tat es auch. DIESEN Jungen jedenfalls.

Den Comics galt fortan nicht nur der Großteil meiner Leidenschaft sondern vor allem auch der meines Taschengeldes. Im Grunde habe ich mir für dieses nie etwas anderes als Bilderbuch-Geschichten gekauft.
Zu den Sachen, die ich in meiner Kindheit rückblickend anders machen würde, gehört sicherlich der Umstand, dass ich meine durchaus beträchtliche Comic-Sammlung nicht nach Deutschland mitgenommen habe. Nicht weil ich es nicht konnte, sondern weil ich es nicht wollte. Irgendwie dachte ich damals der Sache entwachsen zu sein. Hätte ich bloß gewusst, dass man die Dinge, die man als Kind toll und als Teenie blöd findet, als Erwachsener wieder toll finden wird…
Vor allem in der deutschen Oberstufe brachte mir meine Vorliebe für die Bildergeschichten den Ruf einer zuverlässigen Informationsquelle über die neuen Superhelden-Streifen ein, welche damals massenweise die Kinos eroberten. In der Tat gelte ich bis heute im Bekanntenkreis als ein gestandener Marvel Universum-Kenner. Was allerdings längst nicht mehr stimmt, aber unter den Blinden ist der Einäugige König, habe ich Recht?

NBA – meine heimliche Geliebte (sorry, Amiga!)

Es war an einem Freitagnachmittag 1993, als das Geklingel unserer Fernsprechanlage, die ein Jahr zuvor in unserem Haus eingebaut wurde, mich von meinen Comics losriss. Es war ein Freund, der wissen wollte, ob er bei mir das bereits laufende NBA-Basketballspiel zwischen den Houston Rockets und Seattle Supersonics gucken kann. Seine Mutter schaue nämlich gerade irgendwelche brasilianische Telenovela und lässt sich auf keinen Fall davon abbringen. Ich wusste nicht so recht worum es ging. Basketball brachte ich bis dato mit dem langweiligen Sportunterricht zusammen. Ich dachte schon eher an die Telenovela und habe versucht im Kopf zu erraten, um welche es sich denn handeln könnte. Kein bisschen dachte ich jedenfalls daran, dass an diesem Nachmittag eine Liebe erblühen würde, die ähnlich wie die zu Amiga, bis heute anhält.

Es folgten unzählige Trainingsstunden, einige Schulwettbewerbe und viele Löcher, die ich zum Verdruss meiner Mutter in die Sohlen meiner Sportschuhe gespielt habe. Die ganze Welt wurde zu meinem und unserem Parkett. Wir spielten überall und bastelten Körbe sogar aus alten Fahrradfelgen. Ganz Polen wurde von dem NBA-Boom erfasst.
Ich werde nie meinen ersten Basketball vergessen. Schwarz, mit silbernen Streifen und gleichfarbigem Schriftzug einer bis heute sehr bekannten Marke. Ich habe selten so etwas Schönes gesehen. Doch die Schönheit hatte, wie üblich, ihren Preis. Der Ball, den ich in der Kreisstadt in einem Sportgeschäft gekauft habe, hatte 1.000. 000 Złoty {suoti} gekosten (umgerechnet 23 Euro). Gut ein Viertel des damaligen Monatsgehalts meiner Mutter.

Die finalen Spiele der NBA wurden nachts live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen und sorgten für jede Menge müde Gesichter und noch viel mehr hitzige Debatten auf den Schulfluren. Sie ließen mich um viele meiner Mitschüler bis 5 Uhr morgens wachbleiben um kurz vor 7 Uhr zur Schule aufzustehen. Es sei denn, die Spiele gingen in die Verlängerung. In dem Fall begann der Schultag eben schon um 2 Uhr morgens.
Die schlaflosen Nächte von damals sollten sich übrigens viel später als ein ideales Training für die Vaterschaft erweisen. Wer hätte das gedacht?

Bis heute beginnen oft die Gespräche mit vielen meiner Kindheitsfreunden mit der Diskussion, ob Michael Jordan die Liga wirklich so dominierte, wie es häufig behauptet wird. Wir gehen die Aufstellungen unserer Lieblingsmannschaften durch und fragen uns abermals, ob die Finals 1993 einen anderen Sieger verdient hätten. Wir erinnern uns an die Rockets mit Olajuwon, die Sonics mit Kemp, die Jazz mit „Stockalone“ und natürlich an die Bulls mit Jordan und Pippen. Wenn Sie also mit einem polnischen Millennials geschäftlich zu tun haben und die Atmosphäre etwas auflockern wollen, rufen Sie ihm einfach “hej, hej, tu NBA” zu. Er wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit verstehen und Sie erhöhen Ihre Chancen auf einen guten Deal.

Heute, nahezu 30 Jahre später, verdanke ich der NBA nebst zahlreichen Erinnerungen und schlaflosen Nächten zwei handfeste Dinge: meinen allerersten Artikel, den ich für die Schülerzeitung über den bis heute ungebrochenen, in den frühen 1960er Jahren aufgestellten 100-Punkte Rekord von Wilt Chamberlain geschrieben habe. Und ein Autogramm von Magic Johnson, der mich an der Wand meines Arbeitszimmers stets daran erinnert, dass es im Leben viel mehr gibt als die Arbeit.

VHS-Kassetten, Äpfel, Birnen und Zombies

Einige der NBA-Spiele konnte ich seit Ende 1993 auch auf Video aufnehmen. Meine Mutter brachte zwar bereits 1990 aus West-Berlin einen VHS-Player der Marke AIWA mit, welcher theoretisch über eine Aufnahmefunktion verfügte. Aber das ging nur in Echtzeit, also ausschließlich dann, wenn man die Sendung auch direkt schaute. Unser VHS-Recorder einer der bis heute bestehenden deutschen Marke, den wir 1993 bekamen, konnte hingegen programmiert werden. Und eröffnete mir damit die Möglichkeit sämtlichen Quatsch aufzuzeichnen, der im schrillen Fernsehen der 1990er in Polen lief. Ganz vorne mit dabei: trashige Horror-Filme, vorzugsweise über Vampire und Zombies, die das sogenannte Nachtkino am Samstag auf TVP1 zu bieten hatte. Und das ganz ohne elterliche Kontrolle! Die nächtlichen NBA-Spiele lieferten schließlich genügend Alibi.
Apropos Horrorfilme. In den Sommern, die ich bei meinen Großeltern in Kujawien verbrachte, schaute ich mit meinem jüngeren Cousin Jacek {jatzek} jede Menge davon. In einer von den zwei Verleihen der Kleinstadt Piotrków Kujawski galten wir als Stammkunden. Und das in zartem Alter von zwölfeinhalb (wie ich damals noch zu rechnen pflegte) und elf. Keine schlechte Leistung, wenn man bedenkt, was für Filme wir vorzugsweise ausliehen. Genauso sonderbar wie unser Filmgeschmack erwies sich auch die Art, wie wir unsere Filmsucht finanziert haben. Klar, haben wir in erster Linie unsere Großeltern angepumpt. Doch diese Quelle neigte dazu nur allzu schnell zu versiegen. Zum Glück war da noch ein großer Obstgarten, der heutzutage einem Baumarkt und einem Supermarkt mit dem Marienkäfer-Logo gewichen ist. Die zahlreichen Apfel- und Birnenbäume erwiesen sich in Kombination mit dem örtlichen Wochenmarkt als ergiebigere und vor allem nachhaltigere Mäzene der schönen Künste als unsere Großeltern. Jeden Mittwoch und Samstag verdienten wir also auf ehrliche Weise unser VHS-Vergnügen. Einmal haben wir vergessen einen Film rechtzeitig zurückzugeben. Als wir es merkten, waren wir bereits 3 Tage im Verzug. Wir rechneten schnell zusammen, was wir dem Verleih schuldeten und schwangen uns auf die Obstbäume. Noch am selben Tag statteten wir der Videothek einen Besuch ab. Mit gesenkten Köpfen standen wir nun da und lauschten den Berechnungen des Mannes hinter dem Tresen zu. So oder so ähnlich muss sich wohl Kaiser Heinrich beim Papst Gregor in Canossa gefühlt haben. Zuerst sah es nicht gut für uns aus. Zu den Verspätungsgebühren gesellten sich nämlich noch zusätzliche 1.000 Złoty hinzu (heute 10 Groschen, also etwas mehr als 2 Cent), die der Video-Mann uns in Rechnung stellte, weil wir die Kassette nicht zurückgespult haben. Doch die Endsumme wich deutlich von unseren Berechnungen ab. Zu unseren Gunsten! Dies bedeutete zweierlei: Zum einen hatte meine damalige (und auch alle darauffolgenden) Mathelehrerin recht – Zahlen, Gleichungen usw. waren wirklich nicht mein Ding. Zum anderen konnten wir uns zwei weitere Filme ausleihen, darunter eine gerade erst eingetroffene Neuheit! Die Wahl fiel auf einen Zombie- und einen Vampirfilm. Aber das haben Sie sich inzwischen wahrscheinlich schon gedacht.

Fortsetzung folgt.