Polen wiederentdeckt. Teil 1

In ihrem Beitrag für Polen.pl schildert unsere Gastautorin Sabine Behrendt ihren ganz persönlichen Bezug zu unserem Nachbarland sowie ihr (wieder aufgekeimtes) Interesse an Land, Leuten, Sprache und Geschichte. Sabine kommt aus Hannover, ist 55 Jahre alt, Erzieherin (und Übersetzerin) sowie begeisterte und entdeckungsfreudige Radfahrerin. Ihre Radtourenpartnerin und sie sind gerne auf wenig frequentieren einsamen Strecken unterwegs. Die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte hat sie eher zufällig nach Polen geführt. Anhand zahlreicher Landschaftsfotografien möchte Sabine die Leserinnen und Leser von Polen.pl auf ihre Streifzüge durch Polen mitnehmen. Der Gastbeitrag erscheint in drei Teilen. Redaktionell betreut wurde er von Anna Flack.

 

Warum interessiere ich mich für Polen? Das ist eine gute Frage, zumal dieses Interesse unverhofft plötzlich nach immerhin schon 53 Lebensjahren erwacht ist. In meinem Freundeskreis löst es eher Verwunderung und Unverständnis aus, wenn ich begeistert von den Minimalfortschritten in meinem Polnischkurs berichte oder von der Faszination erzähle, die das Land auf mich ausübt. Für mich ist Polen die große Unbekannte von nebenan. Sie stellt ihre Schönheit und Schätze vielleicht nicht unbedingt für jedermann offensichtlich zur Schau. Zu bieten hat sie davon aber jede Menge. Polen zu entdecken, gleichzeitig zu lernen, wie viel uns verbindet, finde ich geradezu elektrisierend. Manchmal sind es Kontakte oder die Liebe, die das Interesse an einem Land wecken. Bei mir war es der biographische Bezug, der mich nach Polen führte, Neugier weckte und Auslöser für die weitere Beschäftigung war.

Familiengeschichte

Meine Eltern kommen aus dem ehemaligen Pommern und Ostpreußen. Beide wuchsen als Kinder von Bauern in kleinen Dörfern auf. Trotz dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich ihre Erinnerungen an diese Zeit. Meine Mutter wuchs in einem kleinen Dorf am Moor in der Nähe des Lebasees auf. Sie erinnert eher die beschwerlichen Aspekte des ärmlichen ländlichen Lebens. Sie musste schon als kleines Mädchen Verantwortung für Haushalt und jüngere Geschwister übernehmen. Dagegen schildert mein Vater seine Kindheit als einziges Kind seiner Eltern als große Freiheit. Sie besaßen einen der größten Höfe in dem Bauerndorf, ca. 100 km südlich von Königsberg, dem heutigen Kaliningrad.

Während meine Mutter froh war, dieses Leben hinter sich gelassen zu haben, hat mein Vater die Sehnsucht nach dieser Zeit nie verloren und in immer wieder neuen Varianten heraufbeschworen. Ihn ließen aber nicht nur die Erinnerungen an seine unbeschwerte Kindheit nicht los. Auch die damit verbundenen traumatischen Fluchterfahrungen, die er als gerade 15-Jähriger erlebte, beschäftigten ihn weiter. Um der vorrückenden Roten Armee zu entkommen, floh seine Familie unter dramatischen Bedingungen über das zugefrorene Frische Haff nach Danzig. Dort wartete die Familie das Ende des Zweiten Weltkrieges ab. Nach dem Ende der Kriegshandlungen kehrten sie zu Fuß in ihr Heimatdorf zurück, um es dann im September 1945 endgültig in einem Viehwaggon in Richtung Westen mit unbestimmten Ziel zu verlassen.

 

„Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines wiedervereinigten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.“ (Jorge Semprún)

 

Emotionale Überforderung

Diese Ereignisse schilderte mein Vater immer und immer wieder. Ich wuchs gewissermaßen damit auf. Heute denke ich, dass diese detailgenauen Schilderungen auch eine emotionale Überforderung für mich darstellten. Obwohl mein Vater als großer Anhänger Willy Brandts für Frieden und Aussöhnung eintrat, beschränkten sich seine Erzählungen stets auf den eigenen biografischen Rahmen. Sie bezogen das Leid der anderen nicht ein. So war ich zutiefst erschüttert, als ich später im Teenageralter in der Schule vom Holocaust erfuhr, von den Verbrechen und der unvorstellbaren Grausamkeit, die von Deutschland ausgegangen waren.

Es folgten heftige Diskussionen zu Hause am Abendbrottisch; im Angesicht dessen, was Deutschland in den Jahren von 1933 bis 1945 angerichtet hatte, erschien seine Geschichte in einem anderen Licht. Das Schicksal der Menschen u. a. im ehemaligen Ostpreußen war die Folge einer vorausgegangen Aggression, die eben auch in besonderem Maße von dort ausgegangen war. Von Ostpreußen, so wie mein Vater es erzählte, wollte ich nichts mehr wissen.

Die Fortsetzung folgt am 17. Februar 2020.