Gastbeitrag: Seitenwechsel – als Deutsche von Russland nach Polen

„Nach Warschau? Nach Polen? Was willst du denn da?“ – innerlich verdrehte ich jedes Mal die Augen, wenn mir diese Frage gestellt wurde und hatte ein Déjà-vu nach dem nächsten. Vor vier Jahren gab es genau die gleichen Fragen schon einmal, damals allerdings für Krakau, wohin es mich für knappe drei Monate zum Intensivsprachkurs verschlug. Also reagierte ich wie damals, lächelte, erklärte meine Beweggründe, und lud die Person ein, mich zu besuchen und sich selbst ein Bild zu machen.

Dieses Mal kam noch etwas anderes hinzu: Ich saß in Russland und sah das Entsetzen in den Augen meiner Russischlehrerin und auch einiger russischer Freunde. Kaum angekommen in Warschau und bei jeder Begegnung mit Polinnen und Polen, brauchte ich bloß zu erwähnen, dass ich frisch aus Moskau kam, und zack, sah ich genau das gleiche Entsetzen in die Gesichter zementiert.

Warschau vs. Krakau

Ich gestehe, ich kam mit Vorbehalten nach Warschau. Aber keineswegs die gleichen, die meinen russischen (und nicht-russischen) Freunden durch die Köpfe schwirrten. Bei mir lag es schlicht und einfach daran, dass mein polnisches Herz Krakau gehörte. Obwohl meine Zeit damals kurz und auch von Krankheit geprägt war, liebte ich dieses kulturelle Zentrum des Landes. Verbrachte Stunden damit, durch die verwinkelten Gassen der Altstadt zu streifen, verstecke Museumsräume zu durchstreifen, mich durch die kulinarischen Highlights der Stadt zu probieren und mit meinen Mitbewohnern über Umweltschutz, Ernährung und Innenpolitik zu diskutieren (alles nachzulesen hier.) Das Konkurrenzdenken zwischen Warschau und Krakau ist vergleichbar mit Hamburg und Berlin, Berlin und München, Köln und Düsseldorf.

Zuhörer im Lazienki Park, jeden Sonntag finden kostenlose Chopin-Konzerte statt / Foto:  Jacqueline Westermann.

Dementsprechend war es schwierig für Warschau, schnell mein Herz zu erobern. Aber mittlerweile kommen wir ganz gut miteinander aus. Frisch aus Moskau hatte ich das Gefühl, alles stände weiter auseinander, die Luft sei irgendwie frischer (bis im Winter die Smoglevels tagtäglich neue Rekorde brachen), das Leben etwas langsamer als in der hektischen Hauptstadt Russlands. Im Sommer an der Weichsel zu sitzen, bei warmer Brise sich mit Freunden Geschichten am Lagerfeuer zu erzählen, an jeder Ecke die Geschichte der Stadt einzuatmen – das geht in Warschau sehr gut.

Von deutscher Zeitung in Russland zu amerikanischem Think-tank in Polen

Den Fingerzeig der Geschichte sehe ich jeden Tag, wenn ich zur Arbeit laufe. Zunächst beim Passieren des Kulturpalastes, ein Geschenk Stalins an das polnische „Brudervolk“, deswegen hass-geliebt von den meisten Einwohnern der Stadt, erinnert es doch täglich an die Repressalien während der kommunistischen Zeit; mich persönlich lässt der Bau im Zuckerbäckerstil in Erinnerungen an meine Zeit in Moskau schwelgen, wo ich, neben Sprachkurs absolvieren und Deutschunterricht geben, bei der Moskauer Deutschen Zeitung arbeitete. Der nächste historische Zeitzeuge wartet beim Betreten des wuchtigen Gebäudes am Dąbrowski-Platz, in dem das Warschauer Büro des German Marshall Fund of the United States (GMF) zu Hause ist. Der Think Tank mit Hauptsitz in Washington D.C. hat sieben Büros in Europa und konzentriert seine Arbeit auf die Pflege und Vertiefung der transatlantischen Beziehungen. Neben dem Haupteingang wurden während der jahrelangen Wiederaufbau- und Restaurierungsarbeiten in der Stadt die Einschusslöcher als mahnende Erinnerung konserviert. Die Verluste und Entbehrungen der Warschauer Bevölkerung während des Aufstandes 1944 sollen niemals in Vergessenheit geraten.

Die Deutschen denken anders – da wird es auch mal lauter

Bei GMF habe ich im letzten Sommer als Praktikantin angefangen und wurde relativ schnell zur Programm Assistentin befördert. Das Warschauer Büro konzentriert sich vor allem auf sicherheitspolitische Themen im Bereich der transatlantischen Beziehungen und Entwicklungen in der Region. Dazu zählen die baltische Region, Zentral- und Osteuropa und Russland. Wir organisieren Workshops und Podiumsdiskussionen, bei denen Hauptakteure aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zusammengebracht werden, verfassen Research Paper und politische Analysen, sowie Kommentare zu aktuellen politischen Entwicklungen (sowohl in Tageszeitungen als auch politischen Journals). GMF ist unabhängig und keiner politischen Partei zugeordnet. Dementsprechend wird bei unseren Veranstaltungen eine große Bandbreite an politischen Meinungen und Einstellungen repräsentiert. Wir organisieren Konferenzen hauptsächlich in Warschau, aber auch hin und wieder im Ausland.

Blick Richtung Altstadt mit der Sigismund III. Säule / Foto: Jacqueline Westermann.

Meine Kollegen im Büro sind alles Polen, die seit Jahren in der internationalen Sphäre arbeiten. Dennoch genießen sie es, eine Deutsche im Büro zu haben, die ihnen oft das deutsche Verhalten oder Ansichten der deutschen Regierung und Bevölkerung „übersetzen“ kann. Denn vieles sorgt ja doch für Kopfschütteln bei den Nachbarn im Osten: Das fängt bei der Haltung zu Russland an und hört beim Verteidigungsbudget auf. Auch meine Erfahrungen aus meiner Zeit in Moskau helfen, zwischendurch eine andere Perspektive auf Russland zuzulassen oder Entwicklungen besser verstehen zu können. Dass ich die zum Beispiel während einer Abendveranstaltung mit der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright im Rahmen des NATO-Gipfels teilen durfte, hätte ich mir vor einem Jahr nur erträumen können.

Und doch werden auch die Unterschiede zu kulturellen und sozial-gesellschaftlichen Ansichten bei uns im Büro deutlich. Wir diskutieren oft über politische Entwicklungen in Europa, den USA, aber allen voran in Polen. Seit 2015 die rechts-nationale PiS-Partei die Regierung stellt, hat sich viel im Land verändert, allen voran, wie in so vielen Ländern heutzutage, eine starke Spaltung in der Bevölkerung. Polen ist ein Land, das stark durch seine Geschichte und Traditionen geprägt ist. Dementsprechend hitzig werden die Debatten geführt, wenn es um das neue Abtreibungsgesetz oder die Flüchtlingspolitik geht. Als gegen Ersteres Zehntausende im Oktober letzten Jahres auf die Straße gingen, konnte ich die Entwicklungen nur über Twitter verfolgen, weil ich bei einer von uns organisierten Konferenz in Moldawien saß. Doch als für Europa demonstriert wurde, oder auch Warschau sich am Internationalen Frauenmarsch beteiligte, war ich mit dabei.

Oft fragen mich Freunde oder Bekannte, wie ich mit den Veränderungen in Polen klar komme. Um ehrlich zu sein, noch wird mein Leben nicht eingeschränkt. Ich kann publizieren, auch kritisch, mich frei bewegen und meine Rechte und Freiheiten genießen. Dennoch habe ich für mich entschieden, dass ich nur in Polen bleiben werde, so lange dies gewahrt wird. Bis dahin werde ich eben jene Freunde und Bekannte, die mich fragten, „warum Polen“, motivieren, mich zu besuchen. Bisher kam jedes Mal der gleiche überraschte Blick, als sich während eines Besuches ein positiver Eindruck und die gleiche Faszination für dieses Land entwickelte, die mich immer noch heimsucht.

Jacqueline Westermann vor dem Moskaupanorama. Foto: privat

Jacqueline Westermann arbeitet im Security and Defence Programme im Warschauer Büro des German Marshall Funds. Nach ihrem Master in Friedens- und Konfliktforschung lebte sie einige Zeit in Moskau, wo sie sich an der russischen Sprache versuchte und für die Moskauer Deutsche Zeitung arbeitete, für die sie nach wie vor schreibt. Darüberhinaus betreibt sie einen Blog (The Peace and Conflict Thread Online) und publiziert in diversen Outlets wie New Eastern Europe und Visegrad Insight.