Deutschland, wir müssen reden

Während Satellitenaufnahmen die Schuld der russischen Streitkräfte für das Massaker von Butscha zu bestätigen scheinen und aus anderen ukrainischen Orten ähnliche ungeheure Berichte laut werden, streitet die russische Regierung die Verbrechen ab und bezeichnet sie als „bestellte Nachrichten“ und „Provokationen“ der Ukraine und des Westens. Währenddessen veröffentlicht die staatliche russische Nachrichtenagentur Nowosti einen Kommentar, der als ideologische Grundlage für solche Massaker wie das von Butscha ausgewertet werden kann. Der Autor des Kommentars ist keineswegs ein No-Name. Er war seinerzeit unter anderem für den Sender Russia Today tätig – stets kremlnah und putintreu. Sein Beitrag hatte alleine gestern über 600.000 Views verzeichnet. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ist die Seite hierzulande allerdings nicht mehr abrufbar.

In Deutschland fahren derweil Autokorsos durch die Hauptstadt. Deren Teilnehmer lassen  keine Zweifel an ihren Absichten aufkommen. Sie unterstützen das Vorgehen Putins und berufen sich auf Rede und Meinungsfreiheit. Ich habe nie verstanden, weshalb Menschen sich auf Werte berufen, gegen die sie offen in den Kampf ziehen. Derzeit werden weitere Pro-Russland-Autokorsos geplant. Der Meinungsfreiheit sei Dank. Wenn das die Menschen in Russland nur wüssten… Also das mit der Meinungsfreiheit. Von der Unterstützung für Putin, haben sie sicherlich schon erfahren.

In der deutschen Medienlandschaft werden schwere Vorwürfe laut. Nachdem der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk unter anderem dem Bundespräsidenten eine fortwährende Nähe zu Putin und seinem System bescheinigt hat, entschuldigte sich Steinmeier öffentlich. Er habe sich, wie viele andere, in Putin getäuscht. Weitere aufgerufene Politiker*innen meldeten sich im gleichen reumütigen Ton zu Wort. Anderen wiederum wird nach wie vor nachgesagt, sie würden Anstrengungen unternehmen um die von Bundeskanzler Scholz mit Inbrunst angekündigte Zeitenwende zu torpedieren. Und die Rede ist nicht von Vertreter*innen der AfD, sondern von den Politikern der regierenden Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

In puncto Flüchtlingsfrage scheint der Bund weiterhin eine lässige Haltung einzunehmen. Wir schaffen das schließlich. Also wir, die Gesellschaft und die Kommunen. Deutschland als Staat fehlt es indes weiterhin an einheitlichen und langfristigen Rahmenbedingungen, welche die Flüchtlingskrise dauerhaft in geordnete, perspektivische Bahnen lenken könnten. Elementarfragen nach dem Zugang der Geflüchteten zum Gesundheitssystem oder deren Anrecht auf Sozialleistungen, blieben dagegen zu lange seitens der Bundesregierung unbeantwortet.

Auch Fragen nach der entsprechenden Unterstützung für die kämpfende Ukraine werden laut. Und je mehr Horrornachrichten von der ukrainischen Front die deutschen Medien erreichen, umso deutlicher schließen sich diesen Fragen schwerwiegende Vorwürfe an, welche die Mitschuld der jetzigen Bundesregierung an den Bevölkerungsmassakern in den Raum stellen. Es werden Unwahrheiten der bundesrepublikanischen Regierenden, vor allem in Bezug auf Waffenlieferungen aufgezählt und ihr grundsätzliches, zögerliches Vorgehen angeprangert. Unterstellungen werden laut, Deutschland habe in den letzten Wochen hinterrücks die Nähe zu Russland gepflegt, während man offiziell zur Ukraine hielt.

Mit den Vorgängern dieser Regierung, darunter auch mit der Rolle Angela Merkels, wird ebenfalls hart ins Gericht gegangen.

Ja

Hat Deutschland also ein Problem? Wenn man die geschilderten Ereignisse noch einmal Revue passieren lässt und die dazugehörigen Diskussionen im Internet verfolgt, was ich im Übrigen nicht jedem empfehle, dann lautet die Antwort eindeutig: Ja. Einige Deutsche haben zurzeit ein Problem.

Welches?

Und zwar mit Polen – was glücklicherweise bisweilen auf Gegenwehr stößt.

Wenn Sie unserem Blog seit Längerem treu sind, wissen sie, dass ich kein großer Fan der gegenwärtigen polnischen Regierung bin. Ihre Haltung zu Europa und insbesondere zu Deutschland, empfinde ich als äußerst besorgniserregend. Gleiches gilt für bestimmte Entwicklungen in der polnischen Innenpolitik. Ich habe meiner skeptischen und kritischen Meinung mehrmals Ausdruck verliehen. Zuletzt hier und hier. Ich betone diesen für mich selbstverständlichen Sachverhalt, um dem Vorwurf vorzubeugen, für die polnische Regierungspartei PIS unreflektiert eine Lanze zu brechen. Denn auch in diesem Zusammenhang habe ich gewisse Verständnisprobleme. Ich kann nämlich schlichtweg nicht nachvollziehen, wie man in solch einer Situation, in der sich Europa aktuell befindet, ausgerechnet jenes Land an den Pranger stellen kann, welches (neben der Ukraine natürlich) die Hauptlast des Krieges schultert. Ökonomisch, gesellschaftlich und politisch.

Prioritäten

Die unter anderen Umständen berechtigte Kritik an den polnischen Regierenden hat sich in meinen Augen momentan hinten anzustellen. Das Heraufbeschwören von deutsch-polnischen Antagonismen und die Suche nach zwielichtigen Motiven, die hinter der Aufnahme von Millionen(!) Geflüchteten stecken sollen, helfen weder der polnischen Opposition, noch der Ukraine. Sie können auch nicht die Irrtümer der deutschen Politik der letzten 20 Jahre verwischen. Wenn wir schon also unsere moralischen Zeigefinger nicht bändigen können, dann sollten wir sie zunächst gegen die eigenen Regierenden der letzten 20 Jahre erheben. Diese haben Deutschland in eine beispiellose und politisch lähmende Energieabhängigkeit von einem autoritären, kriegführenden Staat getrieben.

Polen bekommt schon kein Geld aus der EU. Nicht nur für die Handhabung der Flüchtlingskrise, sondern an sich. In der Tat ist es neben Ungarn das einzige Mitgliedsland, welchem der Zugang zum europäischen Corona-Fonds bisher verwehrt wurde. Dazu gibt es gute und nach wie vor geltende Gründe.

Das ist viel. Das ist genug. Zumindest vorerst. Solange in der Ukraine Zivilisten massenweise getötet werden, sollten wir als Europäer unsere Kräfte bündeln und sie gegen die Täter einsetzen. Alles andere muss warten und kann warten. Viel zu viele Menschen in der Ukraine können es hingegen nicht.