Ein Gastbeitrag von Natalia Janiszewska
Was verbindet eine Studentin, einen Fußballfan und einen Kommentator von gesellschaftlichen Prozessen in Polen? Alle drei, manchmal vermutlich unbewusst, berufen sich auf die polnische Geschichte. Bestimmte Begriffe sind so populär und stark in der Sprache verankert, dass man sie, unwissend ihrer ursprünglichen Bedeutung, anwenden kann. Eine kurze Wiederholung für polnische Muttersprachler wird nicht schaden, und Polnischlernende finden unten Ausdrücke, die sie höchstwahrscheinlich rein sprachlich verstehen, aber sich mit ihnen anhand der Erklärungen vertraut machen können. Greifen Sie zu Ihren Notizbüchern und los geht’s!
Bleiben wir am Anfang kurz bei der Studentin. Im September haben alle Studenten in Polen noch frei, der letzte Monat der Sommerferien ist in vollem Gange. Wer jedoch im Juni bei den Prüfungen durchgefallen ist, muss sie im September erneut ablegen. Bei dieser Gelegenheit hört man oft unter den Studenten folgende Frage: “Machst du die Septemberkampagne? (kampania wrześniowa)”. Der Begriff, der heute auf die Wiederholung der Examen von Studenten an den Universitäten bezogen wird, beschreibt im ursprünglichen Sinne den Polenfeldzug vom September 1939. Die genaue Übersetzung aus dem Deutschen ins Polnische “kampania wrześniowa” wurde von polnischen Kommunisten nach 1945 oft benutzt, um den Kampf der polnischen Armee gegen die deutsche Wehrmacht am Anfang des Zweiten Weltkriegs herabzuwürdigen. Es soll eine kurze und chaotische Verteidigung seitens der polnischen Soldaten gewesen sein. In den Kreisen der Historiker wird heutzutage der Begriff “polnischer Verteidigungskrieg” bevorzugt. Ungeachtet der akademischen Diskussion benutzen die Studenten den Ausdruck “Septemberkampagne” immer noch gerne.
Gehen wir jetzt zum Fußballfan über. Mit stark gedrückten Daumen verfolgt er ein Fußballspiel, es möge sogar die polnische Nationalmannschaft spielen. Die verlieren jedoch ständig den Ball und müssen ihr eigenes Tor verteidigen. Oft chaotisch und voller Panik schaffen sie es am Ende, das Tor erfolgreich zu verteidigen. “Das Spiel war ja eine richtige Verteidigung von Tschenstochau (obrona Czestochowy)!” – kommentiert der enttäuschte Fußballfan, indem er den Fernseher ausschaltet. Statt einer unterhaltenden Vorstellung bekam er einen ständigen Kampf der Fußballspieler ums Überleben. Die eigentliche Verteidigung von Tschenstochau vom Jahr 1655 dauerte vom 18. November bis zum 27. Dezember und war auch erfolgreich. Der Krieg ereignete sich während der Schwedischen Sintflut im 17. Jahrhundert, als die schwedischen Truppen fünf Jahre lang gegen Polen kämpften. Die im Kloster von Jasna Góra lebenden Pauliner-Mönche hatten sich auf die schwedische Attacke eigentlich gut vorbereitet und mithilfe von polnischen Truppen erfolgreich verteidigt. In der Sprache jedoch blieb von diesem historischen Ereignis eine negative Erzählung zurück.
Wenn wir schon im 17. Jahrhundert sind, es ist nicht möglich, einen der bekanntesten Ausdrücken zu übergehen, der sehr oft von Soziologen, Journalisten und Publizisten in den Medien benutzt wird, nämlich Adelsaufgebot (pospolite ruszenie). Im Mittelalter war es sehr verbreitet und bezeichnete eine allgemeine Mobilmachung von Adligen, die zur Abwehr des eigenen Landes mobilisiert wurden. Einerseits privilegiert, andererseits zur aktiven Verteidigung mit Hilfe der eigenen Mittel aufgerufen. In den nächsten Jahrhunderten verlor das Adelsaufgebot an Bedeutung, wurde aber in Polen-Litauen noch im 17. Jahrhundert als das letzte Verteidigungsmittel benutzt. Durch die nicht erfolgreichen und chaotischen Kampagnen nach 1600 wandelte sich das Adelsaufgebot zu einem zwar zahlenmäßig starken, aber militärisch wenig bedeutenden Heer. Heutzutage wird der Begriff sehr oft verwendet. Es reicht, “pospolite ruszenie” zusammen mit der Ukraine in eine Suchmaschine einzutippen. Dann erscheinen viele Artikel über Hilfen aus Polen gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen nach dem Angriff von Russland. Die massenhafte, spontane Bewegung der einfachen Bürger und Bürgerinnen hat viele überrascht und beeindruckt. Dank des Engagements zahlreicher Menschen gelang es, den Ukrainern und Ukrainerinnen zu helfen. Als diese nach Polen strömten, nahmen Polen sie in ihren Häusern auf. Dem Handeln der polnischen Gesellschaft folgte auch das polnische Parlament (Sejm), indem es ein Gesetz verabschiedete, um den Aufenthalt vieler ukrainischer Bürger und Bürgerinnen zu legalisieren. Nach zirka zwei Monaten fragten sich viele Journalisten und Experten, wie lange “pospolite ruszenie” dauern würde, weil jedes Adelsaufgebot früher oder später enden musste. Der Begriff “Adelsaufgebot” wird ab und zu in den Medien benutzt und bezieht sich heutzutage auf die ganze Gesellschaft, nicht nur auf den Adel.
Beim letzten Ausdruck war ich unsicher. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gehört und selbst nicht verwendet. Wer benutzt ihn noch? In den nächsten Tagen hat mit dabei die Gruppe “Ostatnie pokolenie” geholfen. Es geht um den Ausdruck “kłaść się Rejtanem”. Wir müssen noch einmal kurz in die Geschichte eintauchen, diesmal jedoch in das 18. Jahrhundert. Es ist das Jahr 1773, es kommt zur ersten Teilung. Drei benachbarte Mächte: Preußen, Russland und Österreich verständigen sich darüber, Polen-Litauen unter sich teilweise aufzuteilen. Die letzte Entscheidung fällt am dritten Tag der Tagung vom polnischen Sejm. Einer der Abgeordneten, Tadeusz Reytan, will der Entscheidung nicht zustimmen und legt sich in die Türe, um die Debattierenden nicht hinauszulassen. Vergeblich. 1793 und 1795 kommt es zu weiteren Teilungen, sodass Polen-Litauen von der Landkarte verschwindet. Der Ausdruck kann benutzt werden, wenn jemand etwas heftig mit allen zugänglichen Mitteln verteidigt. Den Begriff hat letztens die „Letzte Generation” wiederbelebt, indem sich eine Aktivistin unter das Gemälde von Jan Matejko im Königsschloss in Warschau gelegt hat. Das Werk blieb diesmal verschont.

Kampania wrześniowa, obrona Częstochowy, pospolite ruszenie und kłaść się Rejtanem sind Ausdrücke, die in den polnischen Kursbüchern vermutlich nicht auftauchen. Sie zu lernen ist eigentlich nicht kompliziert, und mithilfe dieser sprachlichen Mitteln verfügt man über ein gewisses Insider-Wissen und kann die polnischen Muttersprachler ganz leicht beeindrucken. Wenig Aufwand, großer Gewinn!
Natalia Janiszewska



