1. September 1939 – das Ende einer Welt

Piotrków Kujawski. Mahnmal für die im Oktober 1939 ermordeten Zivilisten Autor: BP

Prolog

Mit 18 denkt man an vieles – nur nicht an den Krieg.
Jan Mierzejewski [miärschejewski], in diesem Alter schlicht Janek genannt, wurde in Piotrków Kujawski geboren, einer kleinen Stadt in Kujawien, unweit von Inowrocław/Hohensalza. Seine Jugend verlief so, wie man sie in einer polnischen Kleinstadt der späten 1930er Jahre erwarten konnte: Schule, Abschluss, ein erster Job in der neuen Molkerei, die nach dem Anschluss des Ortes an das Eisenbahnnetz im Jahre 1933, in der Nähe des neuentstandenen Bahnhofs eröffnet hat.

Von seinem ersten Gehalt kaufte er ein Akkordeon, von den nächsten ein Fahrrad. Das eine schenkte ihm später ein Stück Lebendigkeit in deutscher Gefangenschaft. Das andere hätte ihn beinahe das Leben gekostet.

Also doch

Im August 1939 war der Krieg das vorherrschende Thema in Polen. In der Presse, im Radio, auf dem Wochenmarkt. „Wagen sie es, oder wagen sie es nicht?“. Sie, also die Deutschen. Die polnische Armee sei doch so stark, die Allianzen mit Frankreich und England so zuverlässig. „Nee, so verrückt ist dieser Schreihals doch nicht“ – lautete die gängige Meinung.

Und wer nicht ganz von der Stärke der polnischen Streitkräfte und dem polnischen Kampfgeist überzeugt war, der konnte sich persönlich ein Bild davon machen. Durch Piotrków zogen nämlich gelegentlich Einheiten der polnischen Armee Pommern, die weiter im Norden in Stellung ging und schon bald versuchen sollte ihrem Name alle Ehre zu machen, indem sie die polnische Verbindung zum Meer vor Heinz Guderian und seinen Truppen verteidigte. „Vielleicht haben die Jungs etwas zu viele Pferde und zu wenige Lastwagen und Panzer um mit den motorisierten Deutschen schnell fertig zu werden, aber wir müssen doch nicht gleich nach Berlin vorstoßen. Königsberg reicht allemal.“.

Am 01.09.1939 erfuhren die Bewohner von Piotrków Kujawski, dass weder die Allianzen, noch der polnische Kampfgeist den Schreihals beeindruckt haben. Die Deutschen kamen. Und aus dem jungen Janek wurde schnell der erwachsene Jan.

Der Anfang vom Ende

Am 10. September fanden in der Nähe des Ortes die ersten und letzten Kämpfe statt. Teile der polnischen 26. Infanteriedivision lieferten sich Scharmützel mit deutschen Diversanten. Einen Tag später zogen sie ab, begleitet von Frauen und Kindern, die ihren Marsch entlang der Straßen säumten. Tränen flossen. Und Gebete. Man verabschiedete sich in eine ungewisse Zukunft. „Überlasst uns nicht den Deutschen“, rief eine Frau den Soldaten entgegen. Oder hat sich Jan da verhört?

Wenige Tage später tauchten die ersten Stahlhelme auf. Und sie brachten Namenslisten mit. Hausdurchsuchungen und Festnahmen wurden durchgeführt. Alle verbliebenen Mitglieder der örtlichen Bildungsschicht, Lehrer, Ärzte, Geistliche, aber auch Mitglieder des örtlichen Heimatvereins, die Fahrradausflüge ins Umland veranstalteten wurden auf dem Marktplatz zusammengetrieben. 22 von Ihnen wurden alsdann erschossen. Jan Mierzejewski überlebte, trotz seines Fahrrads. Anscheinend waren seine Sonntagsausflüge nicht gefährlich genug gewesen.

Deutschland 1939

Aber die neuen Herren hatten trotzdem Pläne mit ihm. Er war jung, kannte sich in der Landwirtschaft aus, er musste also arbeiten. Nicht in der Molkerei in Piotrków, sondern in Bayern, bei einer Familie, die Landwirtschaft betrieb. Jan kam in einem Transport mit Kühen an, die man den polnischen Bauern abgenommen hat. So konnte er direkt bei seiner „Gastfamilie“ punkten. Er war (vorerst) der einzige, auf den die Kühe gehört haben. So wie er, verstanden sie ja nur Polnisch.

Aber dies war nicht der einzige Grund, weshalb er schnell einen Anschluss fand. Er spielte Akkordeon, war also auch auf diversen Feiern von Nutzen. Und er war Katholik, also durfte er die Familie manchmal in die Kirche begleiten. Außerdem war er gutaussehend. Und das verschaffte ihm bei der Tochter der Familie besondere Gunst.

 

Jan Mierzejewski
Von BP

Dora

Die junge Dame hieß Dora. Und sie verliebte sich unsterblich in Jan Mierzejewski. Es war wohl nicht zuletzt ihrem Einfluss geschuldet, dass er fortan gut behandelt wurde. Er durfte sogar seiner leiblichen Mutter in die Heimat schreiben. Die Rückbriefe musste er immer für die Dora übersetzen. „Gott wird uns Deutsche bestrafen, dafür was wir tun“, sagte sie bei einer dieser Lesestunden. Jan Mierzejewski lernte die Deutschen plötzlich von einer ganz anderen Seite kennen.

Aus der sich anbahnenden Romanze wurde natürlich nichts. Sie war nicht nur nicht standesgemäß, sondern lebensgefährlich. Für die Dora und ihre Familie, aber vor allem für den Jan. Eine Verbindung zwischen reinrassigen Deutschen und einem polnischen Untermenschen, war strengstens untersagt. Trotzdem zählen heute deutsche und polnische Historiker Tausende von Kindern, die aus ebensolchen verbotenen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen sind.

Neuanfang

An der unerfüllten Liebe konnte auch das Ende des Krieges nichts mehr ändern. Nach der Befreiung durch die Amerikaner, wollte Jan Mierzejewski nur noch eins: schnell wieder heim. Zu seiner Mutter, zu seinen Freunden und seinem Akkordeon. Dieses deutsche, was er immerzu spielen musste, hatte ihm nie gefallen. „Ob die Molkerei noch steht?“ – fragte er sich auf dem langen Heimweg. Aber selbst wenn nicht. Um Arbeit hat er sich keinerlei Sorgen gemacht. Polen lag in Trümmern, Europa lag in Trümmern. Arbeit gab es für Jahrzehnte.

Er kehrte also zurück, heiratete ein Mädchen, das ebenfalls Zwangsarbeit für die Deutschen geleistet hat und bekam mit ihr fünf Kinder. Als letztes kam meine Mutter zur Welt. Als erstes meine Tante Alina.

Deutschland 1992

Kurz nach der Wende und der Gründung der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung, bemühte sich mein Opa um eine Wiedergutmachung für die besten Jahre seines Lebens, die für ihn trotz allem die schlimmsten waren. Dazu musste er die Familie kontaktieren, für die er Zwangsarbeit geleistet hat. Die Familie lieferte nicht nur alle erforderlichen Unterlagen und Belege, sondern sprach unverhofft eine Einladung aus. Mein Opa sei herzlich willkommen, schrieb Dora. Er sei schließlich in Bayern zuhause, wenn auch nur aufgezwungen. Sie selbst habe nach dem Krieg ebenfalls geheiratet und bekam einen Sohn, Georg. Es sind nur noch sie beide übrig und sie würden sich über sein Kommen sehr freuen.

Mein Opa nahm die Einladung an, wollte aber nicht alleine reisen. Er wusste nicht, wie die Orte seines deutschen Lebensabschnittes auf ihn wirken würden. Sentimental, oder doch eher traumatisierend? Zur Stütze nahm er also seine älteste Tochter Alina mit.

Epilog

Als Dora Anfang der 2000er Jahre verstarb, zierte ein Porträt meines Opa, der bereits 1997 von uns ging, den Nachttisch neben ihrem Sterbebett. Dieses Bild ist noch sehr in meiner Erinnerung präsent und ich werde es bestimmt nicht mehr los. Will es aber auch nicht. Meine Tante Alina, die bis dato schon gut 10 Jahre mit Georg verheiratet war, pflegte Dora bis zu ihrem letzten Atemzug. Ich besuchte Tante Alina und Onkel Georg oft in diversen Schul- und später Semesterferien. Guckte mir alte Bilder an, die auffällig häufig meinen Opa zeigten. Mal im Treppenhaus, mal vor der Eingangstür.

Ich spürte, dass mein Opa in diesem Haus daheim war. Irgendwie. Und er wurde dort irgendwie geliebt. Was ihm und Dora aber letztlich verwehrt blieb, materialisierte sich in der gegenseitigen Liebe ihrer Kinder.

Der heutige Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, der das Ende einer Welt für meinen Opa Jan und Millionen weiterer Menschen bedeutete, ist eine gute Gelegenheit diesem schrecklichen Ereignis eine menschliche Note zu verleihen. Nicht um es zu verharmlosen, sondern um zu zeigen, dass Deutsche und Polen viel mehr verbindet, als nur Hass, Hetze, gegenseitige Forderungen und im beste Falle Missverständnisse. Zwischen den beiden Ländern und Gesellschaften konnte schon immer Liebe erblühen, selbst in der dunkelsten Stunde ihrer Koexistenz. Und wenn sie damals noch nicht zur ihrer vollen Blüte gelangen konnte, so kann sie das jetzt. Seit 1992 schon.