Es ist kurz vor 21 Uhr. Das Wahllokal Nr. 237 im hessischen Darmstadt (polnisch: OKW 237 Darmstadt) schließt gleich. Ich blicke auf die Uhr und auf die Mitglieder meines Wahlausschusses. Sie sind müde, wie ich. Und wie ich sind sie aufgeregt, denn obwohl wir bereits seit 5:30 Uhr hier sind, wissen wir: Die wichtigste Arbeit steht uns noch bevor – die Stimmenauszählung.
„Ich wette, gleich kommt noch jemand angerannt, ihr werdet sehen“, scherze ich. Kurz darauf sehen wir tatsächlich einen Mann über den Hof der Bessunger Knabenschule rennen, in der unser Wahllokal untergebracht ist. Nachdem er seinen Wahlzettel in unsere transparente Wahlurne einwirft, bricht er in Tränen aus. „Ich habe meinen Traum erfüllt“, bringt er gerade noch hervor. Uns wird bei diesem Anblick sofort klar, wie bedeutend dieses Ereignis, diese Wahl ist – nicht nur abstrakt für das Land Polen, sondern ganz konkret für einzelne Menschen. Auch hierzulande.
Wenige Tage zuvor
„Eine Stichwahl ist doch einfacher zu meistern. Es gibt ja nur noch zwei Kandidaten, also wird die Auszählung leichter fallen“, rede ich mir immer wieder ein. Und dann erhalte ich eine Nachricht vom Konsulat in Köln, das für die Durchführung der Wahlen zuständig ist:
„Ich habe noch jemanden, der dem Ausschuss beiwohnen möchte. Braucht ihr noch eine Person? Ich würde dazu raten. Bei 3000+ Wählern wird es echt hart.“
Die Konsulin macht sich Sorgen … Sollte ich mir als Vorsitzender auch welche machen?
Kurze Zeit später postet Daria, eine der 13 Wahlhelferinnen und Wahlhelfer unserer Kommission, ein Bild in unserer WhatsApp-Gruppe: Die Darmstädter OKW ist die zehntgrößte weltweit – mit inzwischen knapp 3.300 registrierten Wählerinnen und Wählern hat sie Metropolen wie New York, Paris und Rom überholt.
Ok. Jetzt bin ich besorgt. Trotzdem tippe ich zurück:
„Danke, aber nein. Wir sind 13, das reicht. Wir werden schon Gedränge vor den Tischen mit der Wahlzettelausgabe haben – lass uns keins hinter den Tischen veranstalten.“
Ich lege das Handy weg und hoffe, dass ich richtig liege.
Samstag
Nach der Feuerprobe am 18. Mai (erster Urnengang) trafen wir uns guten Mutes am Tag vor der Stichwahl. Das Wahllokal sollte vorbereitet werden. Nichts einfacher als das. In der Regel. Doch leider nicht bei uns.
Denn als eines der am stärksten frequentierten Wahllokale erhielten wir tatsächlich eine der kleinsten Räumlichkeiten. Doch zum Glück sind es nicht die Räume, die eine OKW ausmachen – sondern deren Mitglieder. Und ich hatte die Besten der Besten.
Vieles musste um- oder aufgebaut, verschoben, verstellt oder aus dem Weg geräumt werden. Obwohl wir den ersten Wahlgang im ersten Stock des Hauptgebäudes der Knabenschule gemeistert hatten, entschieden wir uns diesmal, die Wahlen in einem Nebengebäude abzuhalten. Es war nach wie vor eng, bot jedoch die Möglichkeit, Ein- und Ausgänge zu trennen – was den Durchfluss der erwarteten Wähler*innen in der Größe einer Kleinstadt erleichtern sollte. Und das tat es auch.
Es geht los
Wir trafen am Sonntag um 5:30 Uhr ein.
Nein, halt – ich traf um 5:30 Uhr ein. Tomasz (Tomek), Dariusz (Darek) und Karolina (Karo) waren bereits da. Und bauten alles auf, was gestern aus Gründen, auf die wir keinen Einfluss hatten, auf der Strecke geblieben war. Als ich das sah, atmete ich tief aus. Ich hatte in meinen Gedanken und Halbträumen die ganze Nacht in diesem Wahllokal verbracht – stellte Sichtschutzwände auf und verschob Tische. Den einen Kühlschrank und den überdimensionalen Metallschrank im Rücken der Mädels von der Wahlzettelausgabe auch. Und nun stellte ich fest, dass alles bereits erledigt war.
Sie sehen: Das mit den „Besten der Besten“ war kein bisschen übertrieben.
Gegen 6 Uhr kam das erste Auto angefahren – ein Wähler aus Heidelberg. Der erste, aber bei Weitem nicht der letzte an diesem Tag. In der OKW Darmstadt haben sich Polinnen und Polen aus der ganzen Umgebung angemeldet. Diese begann irgendwo nördlich von uns (in Abgrenzung zur Konkurrenz aus Frankfurt am Main) und endete tief im Süden – in Baden-Württemberg. Schätzungen zufolge leben in diesem Gebiet Tausende Menschen mit polnischer Herkunft, die stimmberechtigt sind. Allein in Darmstadt und Umland sollten es rund 3.000 sein. Für ebendiese Menschen opferten insgesamt 13 Mitglieder des Darmstädter Wahlausschusses mehrere Wochenenden und einige Abende unter der Woche.
Der Anblick des PKW aus Heidelberg – eine ganze Stunde vor Lokalöffnung – machte uns deutlich, dass unser Einsatz wichtig und richtig war.
6:30 Uhr – Anruf aus dem Konsulat
Hmm. Normalerweise habe ich dort immer angerufen. Ist es jetzt gut oder schlecht, dass es nun umgekehrt ist?
„Vielleicht will man uns bloß viel Erfolg wünschen“, hoffe ich inständig. Ich gehe ran und starte mit einem Gag:
„Hi, was gibt’s? Eine Prämie etwa?“
Die Stimme der Konsulin klingt ernst.
„Nein, leider etwas anderes. Wir haben glaubwürdige Informationen erhalten, dass es gegebenenfalls zu Wahlprovokationen kommen könnte. Ihr seid eine der größten Wahlkommissionen – also haltet die Augen offen und lasst niemanden mit großen Taschen oder Rucksäcken herein.“
Ich seufze tief. „Ok. Verstanden. Machen wir.“
„Viel Erfolg – und lass mich jederzeit wissen, wenn etwas los ist“, höre ich noch zum Abschied. Die Dame, die uns konsularisch betreute, war echt cool. Ich war so froh, sie zu haben – stets entgegenkommend, freundlich und kompetent. Aber leider in Wiesbaden. An diesem Tag unendlich weit weg.
Inzwischen ist es 7 Uhr. Es geht los.
Im Eifer des Gefechts
Bereits in der ersten Stunde gaben gut 200 Menschen ihre Stimme ab – viel. In der zweiten hatten wir den ersten (und wie sich zeigen sollte: den einzigen) „Rucksack-Vorfall“. Nicht weil der Besitzer eine Wahlprovokation im Schilde führte (in Polen wäre das zum Beispiel eine offene Fürsprache für einen der Kandidaten), sondern weil er eine schriftliche Begründung verlangte, warum er seinen Matchbeutel draußen lassen müsse. Ich konnte ihm natürlich keine aushändigen, versuchte aber, die Situation zu entschärfen, indem ich seine Mündigkeit lobte. Das klappte leider nur bedingt.
In Polen sagt man, dass Frauen die Wogen glätten. So war es auch hier. Die Freundin des Mannes schritt ein und rettete die Lage.
Gegen Mittag kam unerwartet ein Transporter angefahren – er brachte uns Wasser. Direkt aus Köln, beziehungsweise vom Lidl, aber eben auf Geheiß des Kölner Konsulats. Ich verspürte echte Erleichterung über diese angedeutete Präsenz der höheren Instanz auf unserem Schulhof.
21 Uhr
Die Geschichte des gerührten Nachzüglers kennen Sie bereits.
Direkt danach machten wir uns an die Arbeit. Darek und Tomek räumten alles weg, was zur Stimmenauszählung unnötig war. Antoni (Antek), mein Stellvertreter, und ich machten uns indessen bereit, den Papierkram zu erledigen. Und davon gab es reichlich.
Sie sollten wissen: Die polnischen Wahlen laufen sehr vorsichtig, um nicht zu sagen paranoid, ab. Alles wird doppelt und dreifach dokumentiert. Bei der Auszählung muss zudem jede*r Wahlhelfer*in jeden Wahlzettel sehen. Das müssen Sie sich bei 3.000 Wähler*innen und 13 Kommissionsmitgliedern einmal vorstellen.
Es liegt wohl an unserer Geschichte, dass das so ist. Diese brachte uns bei, hart Erkämpftem mit Respekt und Ehrfurcht zu begegnen – und nicht unbedingt jedem ohne Weiteres zu trauen. Aber sie brachte uns auch bei, mit allem fertig zu werden.
Gegen 23:30 Uhr konnte ich folglich unser Wahlergebnis an Köln melden. Das Konsulat leitete es nach Warschau weiter. Unser Wahlsonntag endete kurz nach 2 Uhr morgens. Erschöpft, aber im Bewusstsein, unsere Bürgerpflicht über alle Maßen erfüllt zu haben, fuhren wir nach Hause.

Von links: Hiacenta, Paulina, Daria und Karolina
Rafał Trzaskowski trug bei uns den Sieg davon.
Leider hat es für das Land nicht gereicht.