Vermutlich wartet man zurzeit wegen des Klimawandels vergebens auf Schnee zu Weihnachten, trotzdem versuchen wir das feierliche Klima doch zu pflegen. Weihnachtsmärkte, Lichter auf den Straßen und auch geschmückte Weihnachtsbäume in einigen Wohnungen sind schon da. Die ehemals deutschen Traditionen, jetzt weltweit bekannt, mischen sich mit lokalen Bräuchen. Östlich der Oder kommen noch ein paar Sitten dazu, die man ungeachtet des geschichtlichen Kontextes fortführte.
Diese Kontexte änderten sich im Laufe der Zeit mehrmals. Versetzen wir uns kurz ins 19. Jh, als Polen unter drei benachbarten Länder aufgeteilt war. Aufgrund politischer Repressionen im russischen Besatzungsgebiet landeten viele Polen und Polinnen in Sibirien. Die große geografische Region mit ihrem harten Klima und schweren Lebensbedingungen galt jahrzehntelang im (vermutlich nicht nur) polnischen Gedächtnis als eine Art Versinnbildlichung der Hölle. Unglaubliche Kälte, Hunger und die Trennung von der eigenen Familie sind das Gegenteil davon, was mit Weihnachten assoziiert wird. Genau so schilderte der polnische Maler Jacek Malczewski den Heiligabend im Bild “Heiliger Abend in Sibirien” aus dem Jahr 1892. Eigentlich erinnert wenig auf dem Gemälde an Weihnachten. Die dargestellte Gruppe der Männer von jung bis alt weist darauf hin, dass sie wegen ihrer Teilnahme an Aufständen verbannt wurden. Treffend interpretiert die Szene der “polnische Barde” Jacek Kaczmarski im gleichnamigen Lied, der dank seinen Liedern zur Solidarność-Zeit an Popularität gewann.
“Przy wigilijnym stole bez słowa
Świętują polscy zesłańcy”
Bräuche gibt es viele. Da ist vor allem die gemeinsame Mahlzeit im Kreis der Nächsten. Nach dem Fasten kommt es zum Heiligen Abend, es wird jedoch weiter gefastet. Mit einem kleinen Unterschied – Essen gibt es viel, aber ohne Fleisch, in manchen Regionen auch ohne Eier und Butter. Als Erstes kommt eine Suppe, in der Regel die Rote-Bete-Suppe (barszcz czerwony) mit kleinen Piroggen (uszka), in manchen Häusern wird Pilzsuppe serviert. Dann als Vorspeise Hering in unterschiedlicher Form – aus der jüdischen Küche süß mit Rosinen und Äpfeln, scharf mit Öl und Zwiebeln, manchmal mit Sahne. Rezepte gibt es viele, vermutlich macht es jede Familie anders. Als Nächstes landen auf dem Tisch Fische, Piroggen und gebackenes Sauerkraut mit Bohnen und Pilzen (kapusta z fasolą i grzybami).
Hier meldet sich wieder die Geschichte zu Wort. Heute betrachtet man den Karpfen als den wichtigsten Fisch, ohne den Heiligabend nicht stattfinden kann. Die Tradition entstand jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als es an allem mangelte. Die kommunistische Regierung entschied sich dazu, die Karpfenzucht zu unterstützen, weil der Fisch ziemlich anspruchslos war. Während bei meinen Großeltern in Warschau traditionell vor Weihnachten ein schwimmender Karpfen in der Badewanne zu finden war (ja, damit der Fisch möglichst lange frisch bleibt), fing mein Opa auf dem Lande in Masowien einen Hecht oder eine Aalrutte.
“Nie będzie klusek z makiem i kutii”
Kommen wir noch kurz auf den Text von “Wigilia na Syberii” zurück. Kaczmarski schreibt weiter, dass auf dem Tisch der Verbannten Nudeln mit Mohn und Weihnachtsgrütze fehlen. Beide Speisen gehören schon zum Nachtisch und werden mit Mohn- oder Lebkuchen serviert. Wie auch im Lied kommt die Mahlzeit zu Ende, jetzt wird gesungen. Kaczmarski streut gekonnt populäre Weihnachtslieder in die Melodie ein, wie “Słyszę z nieba muzykę” oder “Lulajże Jezuniu”. Nach dem Essen versammeln sich die Familienmitglieder am Weihnachtsbaum, einige nehmen Musikinstrumente, und sie spielen und singen zusammen. Nach dem gemeinsamen “kolędowanie” kommt die Zeit für die Geschenke.
Noch zwei Sitten sollen aufgezählt werden, ohne die sich viele in Polen den Heiligabend nicht vorstellen können. Das ist die Verteilung von Oblaten (łamanie się opłatkiem) vor der Mahlzeit. Nach dem gemeinsamen Gebet bekommt jeder bzw. jede eine rechteckige Oblate und geht von einer Person zur nächsten, gibt ein Stück von seiner Oblate und sagt seine Wünsche auf. Wenn wir dabei auf den Tisch schauen, bemerken wir, dass da ein zusätzlicher Teller liegt. Ursprünglich glaubte man, dass es ein Platz für verstorbene Familienmitglieder war. Ihre Seelen kamen dann einmal im Jahr zum gemeinsamen Essen am 24. Dezember. Später war das ein Platz für diejenigen, die in Folge unruhiger Zeiten am Tisch fehlten. Heutzutage wird es so verstanden, dass man während einer so familiären Feier wie Heiligabend nicht alleine sein darf und jeder bzw. jede herzlich willkommen ist; sei es ein Nachbar, ein lange nicht gesehener Freund oder einfach eine ganz fremde Person.
Kaczmarski endet sein Lied hoffnungsvoll mit den Wünschen der Verbannten, dass sie wieder frei in ihrem eigenen Land leben werden. Dieser Wunsch erfüllte sich tatsächlich bei einigen. Solche Geschichten kenne ich von meinen Freunden, die Erinnerungen von ihren Großeltern erzählten. Genau diese hoffnungsvolle Einstellung scheint der zentrale Wert der weihnachtlichen Atmosphäre zu sein. Die Hoffnung auf eine feierliche und erholsame Zeit mit der Familie, Hoffnung, dass unsere Geschenke den anderen viel Freude bereiten und Hoffnung, dass wir noch ein Stück besser die Welt verstehen. Genau das wünsche ich Ihnen in den kommenden Tagen. Brechen wir gemeinsam unsere Oblaten! 😉