Keine Zeit für das Sommerloch

Während Millionen von Polinnen und Polen sich an den weißen Ostseestränden tummeln oder die majestätischen Berge im Süden des Landes auf und abwandern, brodelt es in der polnischen Politik wie nie zuvor.

Und täglich grüßt das Murmeltier – mal anders

Seit dem Regierungsantritt der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (polnisch PIS) im Jahre 2015 und ihrer Wiederwahl 2019 haben sich unsere Nachbarn an die vielen Richtungswechsel und die sich häufig überschlagenden Ereignisse in der großen Politik längst gewöhnt. Doch selbst für die Erprobtesten unter ihnen scheint dieser ereignisreiche Sommer neue Maßstäbe zu setzen. Auch wir haben dafür unsere Sommerpause unterbrochen.

Die Regierung von Premierminister Mateusz Morawiecki {matäusch morawietzki} mit dem mächtigen und einflussreichen Vizepremier und Vorsitzenden der PIS, Jarosław Kaczyński {jarosuaw katschinski), hält nämlich ihre Wählerinnen und Wähler mit neuen Gesetzesentwürfen, hitzigen Debatten und einer Fülle von nie enden wollenden Konflikten unentwegt bei Laune. Die Stimmung ist aufgeladen und hektisch. Wie soll man denn da noch die Zeit für die Gurkensaison aufbringen, wie das Sommerloch in Polen genannt wird?

Ein Konflikt nach dem anderen

Es vergeht praktisch keine Woche, in der die PIS die polnische Gesellschaft nicht mit einem neuen Diskurs beschäftigen würde. Fassen wir im Folgenden kurz zusammen, was alleine in diesem noch andauernden Sommer auf den Weg gebracht wurde. Aufgrund der Unmenge an Themen, ist die Auswahl auf die signifikantesten und in ihrer Wirkung folgenschwersten Ereignisse beschränkt.

Dauerzwist mit der EU

Polen unter der Regierung Morawiecki liegt schon seit längerem im Clinch mit der Europäischen Kommission. Neuerdings hat sich der Konflikt aber zugespitzt. Und zwar aufgrund der 2018 ins Leben gerufenen Disziplinarkammer der Richter, die als das Flaggschiff der von der PIS forcierten Reform der Gerichtsbarkeit gilt. Der Name der Kammer ist übrigens Programm: Sie soll laut Regierung die für die Demokratie schädliche Unantastbarkeit der Richter effektiv bändigen.

Für die oppositionellen Landespolitiker gilt sie indes als verfassungswidrig. Außerdem wird sie als ein weiteres Instrument betrachtet, das die Gewaltenteilung in Polen außer Kraft setzen soll. Nun ließ die Europäische Kommission verlauten, dass die Kammer gegen einen Grundwert der EU verstößt und daher geschlossen gehört. Basis dessen ist ein Beschluss des Gerichtshofes der Europäischen Union (kurz EuGH).

Polen hat bis zum 16. August Zeit, Stellung zu nehmen. Andernfalls drohen finanzielle Konsequenzen. Eine erste polnische Reaktion folgte prompt. Bereits am 14. Juli ließ das von der PIS kontrollierte Verfassungsgericht verkünden, das Urteil des höchsten Gerichts der Europäischen Union verstoße gegen die Landesverfassung und habe deshalb in Polen keine Rechtskraft.

Kritiker und Analysten befürchten, dass mit dieser Entscheidung der Weg geebnet wurde, künftige EuGH-Urteile seitens der polnischen Regierung zu ignorieren. Sie warnen darüberhinaus, dass das Urteil allgemein die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union untergrabe.

Die EU hat im Übrigen einige weitere Durchsetzungsmaßnahmen gegen Polen eingeleitet. Eine davon beruht auf den so genannten „LGBT-Freien-Zonen“. Zu diesen haben sich diverse Gemeinden und Regionen hauptsächlich im Osten des Landes erklärt. Dabei handelt es sich in Augen vieler Kommentatoren um lokale Gesetzesinitiativen, die an die kürzlich in Ungarn verabschiedeten Homosexuellen-Gesetze erinnern.

Konflikt mit den USA und Israel

Seit dem Regierungswechsel in den USA hat sich das Verhältnis zwischen Polen und Amerika sichtlich abgekühlt. Während der polnische Verteidigungsminister ad hoc 250 modernste Panzer in den USA erwarb, appellierten amerikanische Abgeordnete und Senatoren an ihre polnischen Kolleginnen und Kollegen sowie an den polnischen Präsidenten Andrzej Duda, einen Gesetzesentwurf abzulehnen.

Bei dieser Ablehnungsempfehlung handelt es sich laut Kritikern um ein Gesetz, welches die einst (meistens nach dem 2. Weltkrieg) vorgenommenen Verwaltungsakte des Staates zur Enteignung vom Eigentum, nachhaltig und endgültig legitimiert. In Polen ließ der amerikanische Appell die Emotionen hochkochen.

Während die Regierung und auch einzelne Vertreter der Opposition die Rechtssicherheit von privaten Besitzern von Immobilien in den Vordergrund stellten, hagelte es seitens Israel und den USA sowie von vielen jüdischen Verbänden weltweit harsche Kritik.

Das Gesetz sei ein „Schlag ins Gesicht der polnischen Nazi-Opfer“, hieß es unter anderem. Die polnische Regierung verwies indes unbeirrt auf jene, die solche Enteignungen erst erforderlich gemacht haben, nämlich auf die Nazis (in Polen schlicht die Deutschen). Erst ihr Eroberungskrieg mit seinen unvorstellbaren Verwüstungen und Völkermord habe einen großen Teil der polnischen Bevölkerung, darunter drei Millionen Juden, das Leben gekostet und einen Wiederaufbau gefordert, der wiederum Enteignungen nach sich zog. Die Kritik aus Israel und den USA sei unbegründet, da berechtigte Ansprüche nach wie vor vor Zivilgerichten erwirkt werden können. Außerdem dauert das Gesetzgebungsverfahren an. Sein Ausgang sowie die finale Form des angestrebten Gesetzes stehen demnach noch aus, hieß es darüber hinaus im Brief des polnischen Präsidenten an die amerikanischen Senatoren.

Konflikt mit TVN

Der Konflikt um die Verlängerung der Sendekonzession für den größten unabhängigen und zeitgleich regierungskritischen Sender TVN ist zum Teil ein Nebenschauplatz des Konfliktes mit den USA. Der Sender gehört nämlich der amerikanischen Discovery Inc. und darin liegt auch der sprichwörtliche Hund begraben. Zumindest offiziell.

TVN und seine zahlreichen Ableger (darunter der beliebte Nachrichtenkanal TVN24, der als liberales Pendant zum staatlichen TVP Info gilt), sind schon lange ein Dorn im Auge von Jarosław Kaczyński. Es ist daher nicht verwunderlich, dass zahlreiche Politiker der Regierungspartei, aber auch die Mitarbeiter*innen des staatlichen Senders TVP, kaum eine Gelegenheit auslassen, den privaten Sender zu kritisieren. Teilweise mit Ausdrücken weit unter der Gürtellinie.

Da am 26. September 2021 die Sendeerlaubnis von TVN endet, stellte Discovery vorsorglich bereits vor 18 Monaten einen Antrag auf ihre Verlängerung. Auch wenn zunächst nichts darauf hindeutete, sollte die eher rein formell anmutende Angelegenheit zu einem weitreichenden Politikum werden und der PIS eine willkommene Gelegenheit bieten, mit dem unliebsamen Sender endgültig abzurechnen.

Pathetische Töne wurden laut und prangerten den mangelnden polnischen Einfluss nicht nur auf TVN, sondern auf die gesamten Medien im Lande an. Gleicher Taktik bediente sich PIS bereits im Falle der Übernahme von Polska Press durch den staatlichen Ölkonzern Orlen. Objektiv gesehen befindet sich ein beträchtlicher Teil der polnischen Medien tatsächlich in ausländischer Hand. Dieser Umstand ist laut Experten den wilden 90er-Jahren geschuldet, als westliche Investoren fehlende Regularien ausnutzten und wie im Falle von Polska Press mehrere lokale Medien auf einen Schlag übernahmen.

Die Kritiker werfen hingegen ein, dass das Argument der „Repolonisierung“ der Medien vorgeschoben sei. Im Grunde gehe es PIS darum die Störenfriede auszuschalten, um nach dem Vorbild Ungarns eine Monopolstellung im Informationsbereich zu erringen. Die Regierungsseite entgegnet, das Gesetz soll juristische Personen und Konsortien mit dem Sitz außerhalb der Europäischen Union vom polnischen Medienmarkt fernhalten. Dadurch entstünde ein längst fälliger Schutz der polnischen Gesellschaft vor Einflussnahme durch zwielichtige Organisationen oder diktatorische Staaten. In welche Kategorie die USA fallen, wurde bis dato nicht erklärt.

Auch in diesem Fall ist die Situation äußerst dynamisch und kann praktisch stündlich mit unerwarteten Wendungen überraschen. Die entsprechende Abstimmung, oder besser gesagt die Abstimmungen (die erste, die PIS mit zwei Stimmen verloren hatte, wurde umgehend für ungültig erklärt), wurden erst in der Nacht zum 12. August abgehalten. Im zweiten Anlauf gelang dann der Beschluss des umstrittenen Gesetzes (“Lex TVN”).

Der in diesem Zusammenhang erfolgte Austritt der Partei Verständigung (pol. Porozumienie) aus der Regierungskoalition mit der PIS wird sich wohl in seinen Auswirkungen aber kaum übertreffen lassen. PIS hat damit nämlich keine Stimmenmehrheit mehr im polnischen Parlament.

Aber dazu gleich mehr.

Plenarsaal im Sejm (polnisches Parlament), Foto: Polen.pl (AF)

Regierungskrise und „Polski Ład“

„Lex TVN“, wie das Mediengesetzt von seinen Kritikern verschrienen wurde, scheint das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Jedenfalls für Jarosław Gowin und seine Partei Porozumienie {porosumiänie}, die seit 2015 gemeinsam mit der PIS die polnische Regierung stellte. Der Bruch zwischen den bisherigen Mitstreitern deutete sich schon seit Langem an und verlief zuletzt entlang des sogenannten Polski Ład {polski uad}, des “Polnischen Deals”.

Eigentlich sollte der „Polnische Deal“, ein großangelegtes Förderprogramm mit milliardenschweren, größtenteils von der EU finanzierten Investitionen der PIS helfen. Das Ziel: Die erneute Wiederwahl der PIS-Regierung und den Polinnen und Polen Wohlstand und Stabilität sichern.

Stattdessen brachte er unerwartet die polnische Regierungskoalition zu Fall. Jedenfalls vorerst. Lange Konsultationen gingen der Materialisierung des Deals voraus. Bis auf die Linke weigerten sich allerdings alle polnischen Oppositionsparteien, an den Verhandlungen teilzunehmen. Dass der Todesstoß dann aber trotzdem aus den eigenen Reihen kommen würde, haben wohl die wenigsten auf dem Zettel gehabt.

Die Begründung von Gowin lautete übrigens PIS realisiere derzeit ein radikal sozialistisches Programm, welches eine konservative Partei wie die seine nicht mehr mittragen könne. Zu erkennen sei dies u.a. an den geplanten Steuererhöhungen für die Mittelschicht sowie einer Reihe von weiteren Zuschüssen für Familien, die den staatlichen Haushalt unverantwortlich überlasten würden.

Wie die nächtlichen Ereignisse im Sejm, dem polnischen Parlament, gezeigt haben, sichert sich die PIS vorerst ihre Mehrheit mit notdürftigen Maßnahmen. So berichtet das Internetportal Onet.pl, dass die gestrigen Abstimmungen mit Stimmen gewonnen wurden, die PIS mit dem Amt des Vizevorsitzenden des Sejms erkauft habe. Auch Gowin berichtete gegenüber Gazeta Wyborcza, dass die Abgeordneten seiner Partei mit lukrativen Ämtern und Positionen zur Wiederkehr in die Regierung gelockt wurden.

Es ist schwer zu beurteilen, wie sehr all das der Wahrheit entspricht oder doch eher der Hitze des Gefechts entsprungen ist. Um die gegenwärtigen Geschehnisse zu beurteilen und richtig einzuordnen wird wohl eine gewisse Distanz von Nöten sein. Und diese bringt nur der Lauf der Zeit mit sich.

Diesmal ohne Sommerloch

Wie Sie sehen, kann in Polen derzeit von einem Sommerloch in der Politik nicht die Rede sein.

In den deutschen Medien hingegen schon. Jedenfalls in Bezug auf unser Nachbarland. Über all das, was sie in diesem Beitrag gelesen haben, wurde und wird nicht viel bis sehr wenig berichtet. Gefühlt jedenfalls. Ich habe daher wirklich lange überlegt, ob der Text nicht doch unter meiner Rubrik „Was Ihnen entgeht“ veröffentlicht werden sollte.

Das ist sowohl ironisch, als auch etwas wehmütig gemeint.