Angesichts der Corona-Krise rückte in Polen über Wochen die Frage in den Hintergrund, ob und wie die Präsidentschaftswahlen am 10. Mai stattfinden sollen. Der Vorschlag der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), eine reine Briefwahl abzuhalten, würde keine demokratischen Wahlen garantieren, so die Kritiker.
Viele Experten in Polen vertreten die Auffassung, dass die Präsidentschaftswahlen am 10. Mai unabhängig von der Form nicht rechtens seien. Faktisch konkurrieren die Herausforderer Małgorzata Kidawa-Błońska, Robert Biedron, Szymon Hołownia, Władysław Kosiniak-Kamysz und Krzysztof Bosak mit dem Amtsinhaber Andziej Duda nicht mehr seit Mitte März um das höchste Amt. Die Corona-Krise hat den Wahlkampf zum Erliegen gebracht und Andrzej Duda genießt als amtierender Präsident in den Medien Omnipräsenz. Unter anderem aus diesen Gründen appellierte die Stephan-Báthory-Stiftung bereits im März in ihrer Analyse „Lasst uns die Wahlen verschieben und eine Katastrophe verhindern“ (Przełóżmy wybory – unikniemy katastrofy) an die polnische Regierung, die Präsidentschaftswahlen zu verschieben.
Das polnische Parlament (Sejm) nahm am 6. April mit den Stimmen der regierenden Partei PiS einen Gesetzesentwurf an, demnach die für den 10. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen als reine Briefwahl abgehalten würden. Das Gesetz ist noch nicht rechtskräftig, da derzeit der Senat darüber berät. Unabhängig von den Fragen, ob ein fairer Wahlkampf stattgefunden hat und ob der Vorschlag der regierenden Partei verfassungskonform ist, lohnt es sich einen genauen Blick auf den Vorschlag zu werfen.
Briefwahl in Polen – ein junges Instrument
Polnische Staatsbürger können erst seit 2011 per Briefwahl abstimmen. Während anfangs nur Polen im Ausland diese Möglichkeit wahrnehmen konnten, erweiterte die Regierung unter Donald Tusk diese Möglichkeit 2014 auf alle Staatsbürger. Im Januar 2018 trat hingegen ein Novelle des Wahlgesetzes in Kraft, nach der nur Menschen mit einer mäßigen oder erheblichen Behinderung per Briefwahl abstimmen dürfen. Folglich ist die überwiegende Mehrheit der polnischen Staatsbürger mit der Briefwahl nicht vertraut. Die kurze Zeit reicht nicht aus, um den Menschen die Regeln ausreichend zu vermitteln: Trägt der Wähler in den Briefwahlunterlagen seinen Namen oder die nationale Identifikationsnummer (PESEL) falsch oder unleserlich ein, ist seine Stimme ungültig. Das gleiche gilt, wenn der Wähler seine Unterschrift unter die Selbsterklärung vergisst. Es besteht also das Risiko, dass nicht jeder Bürger in der Lage sein wird, die Wahlunterlagen korrekt auszufüllen. In der Folge könnte es einen ungewöhnlich hohen Anteil an ungültigen Stimmen geben.
Administrative Probleme
Die Infrastruktur der polnischen Wahlbehörden war bisher auf eine geringe Zahl an Briefwählern ausgelegt, die Wahlberechtigten mussten vorher beim Amt die Briefwahl beantragen. Das Projekt der Partei Recht und Gerechtigkeit sieht nun vor, dass die lokalen Behörden die Wählerverzeichnisse an die Polnische Post als zentrale Stelle übermitteln. Bereits jetzt regt sich großer Widerstand bei Teilen der Kommunen. Sie verweigern die Daten zu übermitteln mit dem Hinweis, dass der Senat noch über das Gesetz berate und es daher im Moment keine gesetzliche Grundlage für die Weitergabe der Daten gebe.
In Polen fertigen die Behörden das Wählerverzeichnis auf der Basis des ständigen Wohnsitzes an (zameldowanie na pobyt stały). Viele Bürger leben aber an anderen Orten als jenen, die als ihr ständiger Wohnsitz angegeben sind. Daher ist es zweifelhaft, dass alle Wähler an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort die Briefwahlunterlagen erhalten. Der kurze Zeitraum lässt es nicht zu, die Adressen zuverlässig zu ändern.
Polonia – die polnischen Staatsbürger im Ausland
2018 lebten über 2,5 Millionen Polen im Ausland, davon die meisten in Großbritannien und Deutschland. An den Parlamentswahlen 2019 beteiligten sich über 300.000 Staatsbürger außerhalb Polens. Der Gesetzesentwurf der regierenden Partei sieht vor, dass die im Ausland lebenden Polen sich spätestens 14 Tage vor dem Wahltermin bei der zuständigen Botschaft melden – also am 26. April. Zu dem Zeitpunkt war aber der Gesetzesentwurf zur Durchführung der Briefwahl noch nicht durch den Senat verabschiedet.
Der Gesetzesentwurf regelt nicht, wie den wahlberechtigten Polen im Ausland die Wahlunterlagen ausgehändigt werden. In den USA, Großbritannien, Deutschland und vielen anderen Ländern funktionieren Verwaltung und Postdienste nur eingeschränkt. Unter diesen Umständen ist es zweifelhaft, dass im Ausland lebende Polen bei einer Wahl am 10. Mai ihr Stimmrecht wahrnehmen können.
Und wenn die Briefwahl doch stattfindet?
Eine Briefwahl des Präsidenten oder der Präsidentin in Polen am 10. Mai wäre also keine allgemeine Wahl, bei der alle Bürger ihre Stimme abgeben können. Die vielen administrativen Probleme würden es einem erheblichen Teil der Bürger erschweren, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Der gewählte Präsident hätte kein legitimes und glaubwürdiges Mandat, um die nächsten fünf Jahre an der Spitze der Republik zu stehen. Es ist aber kaum auszudenken, welchen langfristigen Schaden die polnische Demokratie nehmen würde.
Kritiker der geplanten Briefwahl im Mai zeigen sich mittlerweile auch im Regierungslager um den Abgeordneten Jarosław Gowin. Daher ist es fraglich, ob die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit das geplante Gesetz nach Beratung durch den Senat im Sejm verabschieden kann.