Leben wir in Egoistenjahren? Die Solidarität wurde zwar vielleicht nicht in Polen erfunden, hat dort aber eine sehr politische Dimension erhalten. Gibt es sie noch?
Man kennt das ja von den eigenen Eltern: Irgendwann fanden die plötzlich, dass andere Menschen in der Umgebung sich zu sehr auf den eigenen Vorteil besannen. Sie fanden, dass „die Anderen” nicht mehr an die Gemeinschaft dächten. Egoisten: Das hat damals so direkt keiner gesagt. Aber gemeint. Und je nach Lage und Charakter haben die Eltern dann auch egoistisch gehandelt oder eben versucht, die moralische Instanz in der Brandung zu spielen. Beides wenig erfolgreich: Das erste Prinzip des „Wenn jeder an sich denkt, ist ja an alle gedacht” war nicht wirklich zufriedenstellend, das zweite Prinzip des konsequenten Gutmenschen (selbstverständlich, das Wort musste in diesem Beitrag untergebracht werden) führte ganz schnell die Ecke der komischen Menschen außerhalb des Mainstreams (klar, das Wort gehört dann auch dazu).
Ist wieder mal eine Generation so weit? Die Off- und mittlerweile auch Online-Medien sind voll davon: Warum muss das sein, mit dem Drängeln am Bus, am Zug, auf der Autobahn? Warum benimmt sich der Autofahrer/Radfahrer/Fußgänger so, als habe er die Vorfahrt gepachtet? Warum soll jemand ein Recht auf offenes Kaminfeuer, offenen Dieselrauch oder sonstige Feinstaubproduktion direkt in die Nase des anderen haben? Warum dürfen sich Kohorten von Menschen wichtiger fühlen als andere? Nur, weil sie auf einem bestimmten Stück der Erde zur Welt gekommen sind oder dort die meiste Zeit ihres Lebens verbracht haben? Oder weil sie mit ihren Interessen einer bestimmten Gruppe angehören?
Gemeinschaft nur noch für die eigene Gruppe?
Sind wir noch zur Solidarität fähig?
Was für ein Zufall, dass sich auch das Magazin DIALOG zum Jahreswechsel mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Das Magazin hat sich die deutsch-polnischen Beziehungen auf die Fahne geschrieben und ist sicherlich eines der konstantesten Medien in zweisprachiger Stimme. In den letzten Jahren fiel mir im DIALOG kein Thema besonders ins Auge. Vereinzelt gab es gute Texte, andere neigten zur Langatmigkeit oder waren für mich etwas zu sehr in den Fach-Nische. Aber mit der letzte Ausgabe hat das Magazin ein Thema getroffen, das mich wirklich gefesselt hat und bei dem die Tiefe des Magazins für mich keine Langatmigkeit sondern einen Nutzwert hervorbrachte. Die Ausgabe „Sind wir noch solidarisch?” mit dem Untertitel „Die Gesellschaft der Singularitäten” befasst sich mit genau dem Thema, das viele im Alltag so oft unbewusst beschäftigt: das Gefühl, dass Wünsche, Interessen und Ziele Einzelner wichtiger seien als das Wohlergehen der Gemeinschaft.
Trend und Gegentrend
Klar: Fridays for Future sind da ein Lichtblick. Eine Ausnahme? Und warum so spät? Immerhin haben schon die nerdigsten Eltern in den 1980er-Jahren beim Batiken darüber gesprochen, dass es dem Wald schlecht geht. Aber sonst? Tempolimitdiskussionen werden mit dem Hinweis auf die „Freiheit auf das schnelle Fahren” beendet, menschenfeindliche Aktivitäten der Politik wahlweise mit Verweis auf „besondere nationale Schutzbedarfe”, den „Schutz der Sozialsysteme” oder angebliche „Gleichbehandlung” begründet. In Polen gilt der Zweck einer knappen Mehrheit ganz offiziell heiliger als die Mittel, Kollateralschäden gegen die knapp geringere Minderheit werden akzeptiert. Gleiches übrigens auch in Deutschland, bei ganz anderen – vielleicht banaleren – Themen. Weil beispielsweise die Mehrheit der Deutschen ein Auto steuert, so die Politik, müssen die gar nicht mehr so kleinen Minderheiten in der Bahn, auf dem Fußweg oder auf dem Rad (oder wo auch immer) eben damit klarkommen, dass sie schlechter behandelt werden: bei Kostenanteilen, persönlichen Vorteilen und Nachteilen, Subventionen, Akzeptanz und überall.
Haben wir akzeptiert, dass Solidarität maximal noch in der eigenen Peergroup, wie man heute sagt, zählt? Oder ist es gar kein Trend?
Es ist mehr als ein Trend, es ist eine Massenbewegung. Egal, ob in der Blase der Großstädter, die sich moralisch für integrer hält, oder in der Blase der Landbewohner, die sich als die Werkbank unter widrigen Bedingungen fühlt. Oder unter den politisch Liberalen, den Linken oder den Rechten. Oder unter Autofahrern, Radfahrern, Fußgängern. Oder oder oder. Es wird gedroht, überredet, überschrien – aber nicht überzeugt und mitgenommen. Im DIALOG nennt Andreas Reckwitz das Singularisierung, die „eine zweischneidige Angelegenheit [ist]” und „mit Aufwertung und Entwertung eng zusammen[hängt]”. Vor dem Hintergrund, dass „immer mehr soziale Praktiken […] an der Verfertigung von Einzigartigkeit ausgerichtet” sind, wird das Eigene aufgewertet und das Andere entwertet, was das Zeug hält.
Solidarność 1.0
Eine Gewerkschaft namens Solidarność entstand im Rahmen der Streiks in Polen im Jahre 1980. Kennzeichen der Solidarność war – so schreibt es heute die auch Veränderungen ziemlich kritisch gegenüberstehende Community der Wikipedia – eine „Solidarität über Gesellschaftsgrenzen hinweg”. Sicher unter dem Druck der materiellen Notlage, aber mit einer Nachwirkung in die Gesellschaft. Auch wer nicht in der Gewerkschaft war, verstand die Idee der Solidarität und die Mehrheit der Gesellschaft unterstützte die Idee. Ein Grund für die Wirkmächtigkeit war bestimmt auch der politische Erfolg im Nachgang zu den Streiks. Das „Goldene Zeitalter der menschlichen Solidarität” nennt Tomasz Sobierajski im DIALOG diese Zeit bis hin zum Ende der 1990er-Jahre. Bei allem Realismus und weniger Idealisierung: Das war ein historischer Moment.
Solidarność 2.0
Nach der Regierungsbeteiligung der Solidarność sank die Rolle der formalisierten Solidarność stark und führte – so zumindest eine Theorie – dazu, dass heute in Polen eine der geringsten Gewerkschaftsmitgliedschaftsquoten besteht. Und: Die Idee der übergreifenden Solidarität scheint durch die Liberalisierung und deren wirtschaftlichen (positiven wie negativen) Folgen verloren gegangen zu sein. Viele fühlten sich von der Solidarność verraten, weil plötzlich unter politischer Beteiligung der handelnden Personen der individuelle Aufstieg ermöglicht wird und nicht alle Menschen gleichermaßen davon profitieren. Solidarität 2.0 bedeutete also eher den Verlust des Vertrauens in die gesamtgesellschaftliche Solidarität. ‚Schade’ wäre ein zu schwaches Wort dafür.
Solidarność 3.0
Nun gibt es einen hellwach erwachten Nationalismus in Polen. Mit vielen Vorteilen und vielen Nachteilen. Einen sprach ich schon an: Der Zweck wird durch die Mehrheit definiert, die Mittel werden damit heilig. Das ist doch ein bisschen das Gegenteil der Idee der Solidarność? Nur, wenn viele profitieren, wird es damit nicht gut. Aber so scheint es zurzeit zu sein. Man merkt: Nicht alle sind damit glücklich. Das Gleiche kann man in vielen Ländern beobachten. In den Medien ist dann meist von einer „Spaltung der Gesellschaft” die Rede. Übrigens: Die Solidarność, also die Nachfolge-Gewerkschaft mit gleichem Namen, entwickelte sich zu einer der ideologischen Stützen des Nationalismus und der parlamentarischen Mehrheit. Noch Fragen?
Solidarność 4.0
2020 kommt. Ich bin ein bisschen optimistisch, dass die Gemeinschaft nicht immer materiellen Notstand benötigt, um Gemeinsinn als positiv zu erfahren. Und damit meine ich Gemeinschaft über die Grenzen von Gruppen, politischen Lagern oder anderen Communities hinweg. Daher: Schauen wir ganz entspannt auf das Verhalten dieser Gruppen. Auch wenn es uns nicht gefällt. Reagieren wir dann, wenn die Idee der Solidarność (und zwar nicht der formalisierten) im ursprünglichen Sinne gefährdet wird. Die Forderungen und der Einsatz der Menschen, denen die Erhaltung der Umwelt und des Klimas aus den verschiedensten Gründen wichtig ist, ist so ein Anfang. Die vielen Stimmen gegen die Ausgrenzung von Menschen, die nichts dafür können, dass sie einer Gruppe angehören, ebenso. Denn wir haben schon in der Version 1.0 gelernt: Institutionen, Formalismen und Strukturen sind nach der Erfahrung 1.0 nicht im Weg, wenn eine Gesellschaft tatsächlich Solidarität leben möchte. Wollen wir, oder? Also los.
Wen das Thema noch weiter interessiert: Lesenswerte Beiträge zu diesem Thema bietet die Ausgabe 129 (3/2019) des deutsch-polnischen Magazins DIALOG. Die Zeitschrift kann man online bestellen.
Hinweis: Der Autor unterstützt die Redaktion des DIALOG in der Technik, hat aber keinerlei Einfluss auf die redaktionellen Aspekte.