Teil 2 des Interviews von Jerzy Sobotta mit Prof. Krzysztof Jasiecki. Hier geht es zu Teil 1.
Jerzy Sobotta: Seit Polen 2004 der EU beigetreten ist, scheint es den Menschen immer besser zu gehen. Dennoch gab es einen plötzlichen Rechtsruck.
Prof. Krzysztof Jasiecki: Seit dem EU-Betritt schien das neoliberale Modell gut zu funktionieren. Die liberal-konservative PO kam 2007 an die Macht und regierte acht Jahre lang. Aber während dieser Zeit sind viele neue Probleme entstanden. Ähnlich wie in Spanien arbeiten in Polen viele Menschen unter prekären Bedingungen und die Jugend sieht einer trüben Zukunft entgegen. Die Regierung Donald Tusk war technokratisch und ignorierte zahlreiche Bestrebungen der Bürger, wie Gesetzesvorschläge, Forderungen nach Volksbegehren über das Schuleintrittsalter oder die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Der gesellschaftliche Dialog ist zusammengebrochen. Überall wuchs der Eindruck, die Regierung sei arrogant, die Eliten hätten sich von den Menschen und ihren Bedürfnissen entfernt.
Der Neoliberalismus hat aufgehört zu funktionieren?
Den größten Einfluss hatte die globale Wirtschaftskrise von 2008. Sie hat alles verändert! Das Versprechen auf Erfolg und Massenkonsum wurde durch die Krise in Zweifel gestellt. Plötzlich zeigte sich, dass der EU-Beitritt nicht nur Probleme löst, sondern auch neue schafft. Sollen wir dem Euro beitreten, oder nicht? Heißt das, dass wir Länder wie Griechenland retten müssen, die doch reicher sind als Polen? Sollen wir Flüchtlinge aus Afrika annehmen, unter denen sich auch islamistische Terroristen befinden könnten? Die Krise in den liberalen Staaten des Westens und die militärische Bedrohung aus Russland haben die Ängste zusätzlich verstärkt.
Welchen Effekt hatte die Krise?
Die Strategie für die wirtschaftliche Modernisierung Polens nach 1989 stützte sich auf den Import von Kapital und Technologien aus dem Westen. Internationale Konzerne kauften marode Staatsbetriebe auf und modernisierten sie. Weil wir nur wenig eigenes Kapital zur Verfügung hatten, bestand unser Konkurrenzvorteil in niedrigen Löhnen. Wichtige Wirtschaftssektoren wurden so aber von westlichem Kapital abhängig. Beispielsweise kontrollierten ausländische Investoren im Jahr 2004 zwei Drittel aller Banken in Polen. Über die Hälfte der 500 größten Firmen im Land haben schon seit Jahren einen mehrheitlich ausländischen Kapitalanteil, insbesondere in Exportbranchen wie der Autoindustrie. Wie gefährlich diese Abhängigkeit war, zeigte sich erst in der Krise.
Also ist es ein sehr grundsätzliches wirtschaftliches Problem?
Das Model des Kapitalismus, welches wir in den 1990er Jahren angenommen hatten, sah Risiken und Krisen dieser Größenordnung nicht vor. Die globale Finanzkrise von 2008 hat die zentralen Annahmen der Transformation delegitimiert! Sie hat gezeigt, dass internationale Konzerne ihre Strategie schnell ändern und plötzlich woanders investieren können. Fiat beispielsweise hat einen Teil seiner Investitionen nach Italien umgeleitet und Banken mit großem ausländischem Kapitalanteil haben ihre Kreditvergabe eingeschränkt. Das Wirtschaftswachstum in Polen verlangsamte sich. Es zeigte sich, dass Regierung und Wirtschaftseliten über keinerlei Instrumente zur Umsetzung ihrer Wirtschaftspolitik verfügen. Wenn das inländische Kapital zu schwach ist, wie soll man dann weiter verfahren? Und wenn dazu noch die EU-Förderung ausläuft und die ausländischen Direktinvestitionen ausbleiben? Die gesamte Strategie der Wirtschaftsentwicklung könnte zusammenbrechen.
Welche Reaktionen gab es auf die Krise?
Es kamen Fragen auf, die zuvor nicht diskutiert worden waren: Wieviel Dividende zahlen wir eigentlich den Eigentümern ausländischer Firmen? Wieviel Geld fließt also ins Ausland zurück? Seit Anfang 2017 haben wir konkrete Zahlen des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung: 95 Mrd. Zloty (ca. 22 Mrd. Euro) gehen an ausländische Investoren, ausländische Firmen generieren 50 Prozent der „polnischen“ Industrieproduktion und zwei Drittel des „polnischen“ Exports. Auch unter Liberalen wuchs die Sorge. Der ehemalige Premierminister Jan Krzysztof Bielecki warnte davor, dass die nächste Krise viel zerstörerischer sein werde – und wir wissen, dass in einer Marktwirtschaft immer die nächste Krise kommt. Schon die PO-Regierung wollte den polnischen Kapitalanteil in der Wirtschaft vergrößern. Allerdings waren ihre Maßnahmen zögerlich, denn sie wollte in Ruhe ausharren und die Krise überdauern. Trotz guter Statistiken wurde klar, dass sich das Entwicklungsmodell der 1990er Jahre erschöpft hatte. Doch die frühere Regierungselite der PO präsentierte keine Idee, wie sie das Modell verändern wollte.
Und die PiS zeigte klare Alternativen auf?
Die Partei von Jarosław Kaczyński war die einzige, die seit Jahren die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung proklamierte. Die PiS hat öffentlich auf die anwachsenden Probleme hingewiesen und ihre Forderungen danach ausgerichtet: eine neue Sozial- und Familienpolitik unter dem Namen „500 plus“ (benannt nach dem Kindergeld in Höhe von 500 Zloty, ca. 125 Euro), die Herabsetzung des Renteneintrittsalters, eine Justizreform usw. Sie hat eine Wirtschaftspolitik vorgeschlagen, die polnisches Kapital mobilisieren sollte.
Welche Gefahren birgt ihre Politik?
Die Regierung schlägt einen grundlegenden institutionellen Umbau des Wirtschaftsmodells vor. Entstehen soll ein „Staatskapitalismus“, dessen Entwicklung sich auf eine zentralisierte Verwaltung und eine aktive Investitionspolitik großer staatlicher Konzerne stützt. Eine Evolution in diese Richtung ist nicht neutral gegenüber anderen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens – der Justiz, der Pressefreiheit und der Medien, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft. Das zeigen die bisherigen politischen Veränderungen in Polen und die Erfahrungen aus der Regierung Viktor Orban in Ungarn. Dort kann man beobachten, wie sich eine neue Oligarchie herausbildet, die mit der Regierungspartei verfilzt ist.
Schlägt Polen den gleichen Weg wie Ungarn ein?
Es gibt verschiedene Zukunftsszenarien. Sie hängen auch davon ab, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Insbesondere in den Kommunalwahlen im November 2018 wird sich zeigen, wie die Bevölkerung sowohl Regierung wie Opposition langfristig bewertet.
Danke für das Gespräch.
Jerzy Sobotta ist zweisprachig im Ruhrgebiet aufgewachsen und kennt Deutschland und Polen seit seiner Kindheit. Er hat Philosophie und Soziologie in Darmstadt, Frankfurt am Main und Krakau studiert. Neben der Ideengeschichte beider Länder hat er sich mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen Polens der 90er Jahre beschäftigt. Beiträge und Übersetzungen von Jerzy erschienen bisher in der Frankfurter Rundschau, auf Bayern 2, der Zeitschrift Osteuropa und im Polen-Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts. Außerdem ist er Redakteur der studentischen Zeitschrift Platypus Review.