Professor Krzysztof Jasiecki ist Politologe und Industriesoziologe. Er war langjähriges Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften und lehrt u.a. am Zentrum für Europa der Universität Warschau. Seine Forschung behandelt den Kapitalismus in postsozialistischen Ländern, politische und wirtschaftliche Eliten, Lobby- und Einflussgruppen, Reichtum und Vermögen sowie Globalisierung und die Integration Polens in die Europäische Union. Er ist Autor zahlreicher Publikationen, Bücher und Monographien.
Das Interview führte Jerzy Sobotta.
Jerzy Sobotta: Was passiert zur Zeit in Polen?
Prof. Krzysztof Jasiecki: Vor unseren Augen geschieht ein radikaler Systemumbau. Es ist der Versuch, den ganzen Staat umzuwälzen: In der Politik, Verwaltung und Armee wurden die Eliten ausgewechselt, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk massenhaft Journalisten entlassen, das Verfassungsgericht wurde demontiert, die Unabhängigkeit der Gerichte ist ernstlich gefährdet, die Wirtschaftspolitik wird umgestellt. Auch Bereiche, auf die die Politik zuvor keinen direkten Einfluss ausübte, sind nun betroffen: Kunst, Kultur und Bildung.
Sind Sie darüber erstaunt?
Nicht ganz. Aus der Perspektive des Analytikers war dies zu erwarten. Die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) regierte schon 2005 für zwei Jahre. Außerdem wurde Lech Kaczyński, der Bruder des heutigen Parteichefs Jarosław, im selben Jahr zum Präsidenten gewählt. Zahlreiche Parolen aus dieser Zeit kehrten im Wahlkampf von 2015 wieder, zum Beispiel die Einteilung in Gewinner und Verlierer der Wende von 1989. Seit Jahren gibt es einen scharfen Konflikt zwischen der konservativ-liberalen „Bürgerplattform“ (PO) und der nationalkonservativen PiS. Das harte Aufeinandertreffen der zwei stärksten Parteien ist also nicht wirklich neu.
Nur, dass dieses Mal die Konsequenzen andere sind.
Im Vergleich zu den Jahren 2005 bis 2007 vollzieht sich der Umbau jetzt bedeutend schneller und weitgehender. Die Regierungspolitiker sind sehr populistisch und demagogisch. Sie mobilisieren die Gesellschaft durch Angst. Polen sei durch Deutschland oder die EU in seiner Souveränität bedroht: Polen gegen den Rest der Welt. Im Wahlkampf haben soziale Fragen überwogen. Und mit der Unterstützung des neuen Präsidenten Andrzej Duda, welcher vor Amtsantritt auch der PiS angehört hatte, konnte die neue Regierung sofort mit dem radikalen Systemumbau beginnen.
Die PiS hat das Oberste Gericht der Exekutive unterstellt. Dabei verkündete sie „das Ende des Postkommunismus“. Was verbirgt sich hinter dieser Parole?
Auch nach der Wende von 1989 wurden die führenden Positionen in der Verwaltung, den Gerichten, politischen Parteien, Medien und der Geschäftswelt mit den Vertretern des vorherigen Systems besetzt. In Osteuropa ist es nie zu einer revolutionären Veränderung gekommen, die die Institutionen und die Gesellschaftsstruktur grundlegend umgewälzt hätte. Das war eine von vielen Paradoxien der Demokratie nach dem Kommunismus. Aus den Reihen der oppositionellen Gewerkschaftsbewegung Solidarność kam ein Teil sehr radikaler Politiker, die eine „Vollendung der Revolution“ forderten. Unterstützung erhielten Sie vom rechten Milieu und von Menschen, die durch die neoliberalen Reformen verarmt sind. Die einflussreichsten Personen fanden sich in der PiS zusammen und vertraten eine radikale Kritik des Systems, das nach 1989 entstanden ist. Es sei einfach aus dem Westen kopiert worden und funktioniere schlecht. Führende PiS-Politiker sehen in den Reformen der 90er Jahre vor allem eine Kontinuität zum Kommunismus, sowohl institutionell wie personell.
Seither ist viel Zeit vergangen. Viele Menschen des alten Systems sind in Rente oder bereits verstorben.
Die PiS mystifiziert ihre Gegner und mobilisiert Menschen durch Ressentiments. Der Postkommunismus ist längst vergangen und gehört in die 1990er Jahre. Heute haben wir es mit einer anderen Generation, anderen Einstellungen und Problemen zu tun. Damals ging es in erster Linie um die Privatisierung von unrentablem Staatseigentum. Heute ist der Großteil des Eigentums privatisiert. Vielmehr hat ein umgekehrter Prozess eingesetzt, denn die Regierung betreibt die Renationalisierung der Wirtschaft, unter anderem im Bank- und Energiesektor. Paradoxerweise gehen wir in die entgegengesetzte Richtung, obwohl wir uns auf die alten Parolen berufen.
Wieso funktionieren diese Parolen dann weiterhin so gut? Nach zwei Jahren in der Regierung liegt die Unterstützung für die PiS laut einer Meinungsumfrage im November 2017 bei 45 Prozent.
Der Prozess der Abrechnung mit dem vorherigen System wurde nie beendet. Die Transformation war für viele Menschen unglaublich schmerzhaft. Als Polen 2004 der EU beitrat, lag das Einkommen jeder zweiten polnischen Familie unterhalb der Armutsgrenze. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage seither gebessert hat, haben wir immer noch eine schwache Mittelschicht. Die Sozialstruktur eines Landes verändert sich nicht in zehn oder zwanzig Jahren. Auch Verbände, Vereine, Stiftungen und andere zivilgesellschaftliche Institutionen sind bei uns fast nur in großen Städten entwickelt. Die PiS-Regierung erfüllt vor allem die Erwartungen der unteren gesellschaftlichen Schichten, die bisher ignoriert worden waren.
Also lebt Polen immer noch mit dem politischen Erbe der Transformation?
Während der Transformation entstand eine große Kluft zwischen Wirtschaftszentren und der Peripherie. Am schlimmsten hat es die unteren Gesellschaftsschichten in den Kleinstädten und ländlichen Regionen unter anderem im Osten des Landes erwischt. Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind zum Erliegen gekommen, nachdem die Staatsbetriebe privatisiert worden waren. In Polen wurden Veränderungen innerhalb von wenigen Jahren durchgeführt, die sich im Westen über Jahrzehnte vollzogen. Das war gesellschaftlich und ökonomisch sehr schmerzhaft. Es hat die Gesellschaft polarisiert und fragmentiert. Schnell sind Radikalismen entstanden. Die liberalen Eliten haben nie ein probates Mittel gefunden, wie man diese abgehängten Milieus in den politischen Mainstream einbinden könnte. Soziologische Studien über das Wahlverhalten dieser Menschen waren eindeutig: Arbeitslose, Menschen mit niedrigem Bildungsstand und die Landbevölkerung wählen überhaupt nicht, oder sie wählen populistische bzw. radikale Protestparteien.
Wie schlägt sich das im politischen System nieder?
In Polen entstanden politische Parteien unter ganz anderen Bedingungen als im Westen. Sie sind gesellschaftlich fast gar nicht verankert. Politik wird in erster Linie medial geführt. Wir haben einen scharfen politischen Konflikt ohne eine breite gesellschaftliche Debatte, weder auf zentraler, regionaler oder lokaler Ebene. Die Mitgliederbasis der Parteien ist nach dem Kommunismus nie groß gewesen. Die PiS beispielsweise hatte 2015 ca. 30.000 Mitglieder. Das sind Schätzungen, denn offizielle Statistiken gibt es nicht. Auch ist bekannt, dass sie nur wenig Kader und Experten in der Reserve hat. Alle Parteien ändern ständig ihre Ausrichtung und das politische System ist nur schwach mit der Wählerschaft verbunden.
Ist es zu einer Depolitisierung gekommen?
Schon der Kommunismus war auf die politische Passivität der Bürger ausgerichtet. Hinzu kamen die tiefen Veränderungen und die Wirtschaftskrise der 1990er Jahre. Anfang der 2000er lag die Arbeitslosigkeit bei zwanzig Prozent. Unter solchen Umständen haben sich die Menschen ums Geldverdienen und die eigenen Lebensumstände gekümmert – sie haben Arbeit gesucht, Firmen gegründet oder sind emigriert. Politik war eigentlich nur eine Angelegenheit der Eliten. Bis heute gibt nur jeder zweite Pole seine Stimme bei Parlamentswahlen ab. Bei Kommunalwahlen sind es noch weniger.
Doch kam dieser Effekt nicht nur von unten…
Die politische Demobilisierung gehörte zur Strategie der Reformelite der 1990er Jahre. Man spricht selten davon. Ich habe mich damals mit den Experten der führenden Parteien unterhalten. Sie haben auf eine gewisse Heuchelei hingewiesen. Offiziell wurde den Bürgern gesagt: „Nehmt an den Wahlen teil!“ Doch die Parteivorstände wussten, dass eine massenhafte Wahlbeteiligung die Reformen bedroht hätte. Die Politiker fürchteten, dass eine hohe Wahlbeteiligung Leute hätte stark machen können, die gegen die Reformen waren. Da sei es vielleicht ganz gut, wenn nur eine kleine Gruppe von Menschen an der Politik teilnimmt. Eine Massenbeteiligung in der Politik hätte die neoliberale Richtung der Reformen in Frage stellen können. Die Reformer führten eine scharfe Marktkonkurrenz ein, wobei sie von internationalen Wirtschaftsorganisationen und westlichen Regierungen unterstützt wurden. Für das Land insgesamt hat sich das gelohnt, aber die Kosten wurden sehr ungleich verteilt.
Leute des rechten politischen Spektrums konnten diese Frustration kanalisieren.
Ja, aber mit erheblicher Verspätung. Zu Beginn der Transformation, als die rechten Parteien entstanden, hatten sie einen lokalen Charakter und sehr begrenzte Mittel. Sie waren vorher in der Solidarność gewesen und wussten nicht, wie man sich in Parteien und staatlichen Strukturen bewegt. Sie hatten für eine Pluralisierung der Politik gekämpft. Was war also das erste, was sie nach der Wende machten? Sie spalteten sich in kleine Parteien auf, die allesamt miteinander konkurrierten. Das hat sie entscheidend geschwächt.
Wann hat die PiS größere Erfolge erzielen können?
Die PiS entstand im Jahr 2001 und profitierte vom Traditionalismus vieler Polen und der großen Unzufriedenheit im Land. Sie konnten die Bedeutung der Wende neu definieren: Es sei zu einer Spaltung in ein liberales und ein solidarisches Polen gekommen. So konnten sie die Lebenswirklichkeit der Bewohner der Provinz, der Kleinstädte und des Landes, denen die neoliberale Wirtschaftspolitik große Lasten aufbürdete, gegen die Bewohner der dynamischen Großstädte ausspielen. Sie haben dadurch auf eine wichtige Spaltung hingewiesen, die bis dahin ignoriert worden war.
Das hat die Linke nicht gemacht?
In den 1990er Jahren kämpfte die postkommunistische Linke gegen die Parteien, die aus der Solidarność entstanden waren. Zu Beginn der 2000 hat sich die Linke durch verschiedene Affären und Skandale diskreditiert. In der letzten Parlamentswahl 2015 konnte sie überhaupt nicht mehr ins Parlament einziehen. Das ganze Parteienspektrum hat sich nach rechts in Richtung Traditionalismus und Konservatismus verschoben.
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Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews mit Prof. Jasiecki, das die Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf die Politik der PiS thematisiert.
Jerzy Sobotta ist zweisprachig im Ruhrgebiet aufgewachsen und kennt Deutschland und Polen seit seiner Kindheit. Er hat Philosophie und Soziologie in Darmstadt, Frankfurt am Main und Krakau studiert. Neben der Ideengeschichte beider Länder hat er sich mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen Polens der 1990er Jahre beschäftigt. Beiträge und Übersetzungen von Jerzy erschienen bisher in der Frankfurter Rundschau, auf Bayern 2, der Zeitschrift Osteuropa und im Polen-Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts. Außerdem ist er Redakteur der studentischen Zeitschrift Platypus Review.